Gedankenwelt

Markus Sprehe

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Der Papst in Deutschland


Ein Megastar. Ich frage mich, ist das reine Promotion, aus dem Hintergrund von irgendwelchen Marketingexperten gesteuert, oder ist der Benedikt wirklich so herzlich, wie er sich gibt?


Beim Kirchentag in Köln im Jahr 2005 kamen viele Millionen Menschen, die ihn vom hörensagen als erzkonservativen Theologen kennen mussten. Dennoch kamen sie und lernten den Papst von einer ganz anderen Seite kennen. Überaus menschlich und verständnisvoll, ja, tolerant. Natürlich vertritt er seinen Glauben. Aber wie er das macht, ist absolut bewundernswert.


Viele junge Menschen sehnen sich anscheinend nach einem Rückhalt. Die Welt ist zu schnelllebig und unnachgiebig geworden. Vielleicht ist das die Stunde der Kirche, die immer in Zeiten der Not gesucht wird und es ist nicht nur Armut und Krankheit Not. Wir als Elterngeneration sollten uns einmal überlegen, welche Last wir unseren Kindern auf bürden. Ich möchte nicht in diese Gegenwart hinein geboren werden.


Ich glaube, auch der Papst hat die Sehnsüchte der Menschen gespürt und möchte Ihnen einen Weg für die Zukunft weisen. Hier bleibt allerdings zu bedenken, ob sich unsere Welt noch stoppen lässt in ihrer wahnsinnig rasanten Entwicklung ins Chaos. Der Fortschritt hat inzwischen wohl eine Eigendynamik entwickelt. Er dient dem Menschen nicht mehr sondern stellt sich gegen ihn, gegen seine urtümlichen Gefühle und Bedürfnisse. Wir verkommen mehr und mehr zu Einzelgängern.


Und hier setzt die Kirche an, setzt Benedikt XVI. an, denn sie preist die Eucharistie, die Gemeinschaft. Kommen deshalb so viele Menschen zu den „Events"? Ich glaube ja.


Auch wenn die Vergangenheit des Papstes mir zu sehr von „mittelalterlichem" Denken geprägt war, halte ich die Richtung, die er eingeschlagen hat, für richtig und wichtig.


14.09.2006


 

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Über das Übel nehmen


Im Dschungel treffen sich ein Tiger und ein Affe. Der Tiger sagt zum Affen: „Ich habe Hunger und muss dich nun leider fressen. Das wirst du mir doch nicht übel nehmen, oder?"


Darauf hin sagt der Affe: „Ich weiß, du bist der Stärkere, aber ich kann besser klettern."


Er schwingt sich auf den nächst besten Baum und ruft von oben herab: „Jetzt musst du zeigen, ob du so hoch springen kannst. Dann wirst du mich vielleicht fressen. Bis dahin nehme ich dir gar nichts übel. Lass uns also später noch mal darüber reden."


 


15. November 2006


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Saddams Hinrichtung


Am 30.12.2006 in den frühen Morgenstunden ist Saddam Hussein durch erhängen hingerichtet worden. Die Welt ist geteilter Meinung angesichts der vollzogenen Todesstrafe. Es ist ohne Zweifel richtig, dass der Diktator Saddam Hussein skrupellos mit Menschen um zu gehen pflegte, jeden, der ihm im Weg stand, ermorden ließ und sein Volk – sofern es keine dem Regime wohlgesinnte Menschen waren - in Angst und Schrecken versetzt hat. Er akzeptierte nur seine eigene Freiheit und zählt wohl zu den brutalsten, unduldsamsten und schließlich am meisten gehassten Menschen, die die Weltgeschichte vor zu weisen hat.


Im Affekt hätte ich diesem Scheusal den Kopf abschlagen können, und hätte es hinterher bereut. Den Tod aber geplant zu verrichten, nachdem nun auch noch viel Zeit seit seiner Gefangennahme verstrichen ist, halte ich eindeutig für anklagenswert. Niemand hat das Recht, über Leben und Tod zu entscheiden, außer die Natur - oder Gott, wem das lieber ist.


Aus dem Verkehr gezogen gehörte er - das lebenslang - der, der nur seine eigene Freiheit kannte, hätte auch allein leben sollen. Keine Strafe, sondern eine Schutzmaßnahme. Wie er das empfunden hätte, wäre seine Sache gewesen.


Nun aber ist er für seine Anhänger zum Märtyrer geworden. Was der Vatikan in einer Stellungnahme sagte, befürworte ich: Sein Tod wird dem Irak keinen dauerhaften Frieden bringen.



30.12.2006 

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Perfektion und Natur


Kein Mensch ist perfekt. Das sei zunächst einmal fest gehalten.


Es soll aber Artgenossen geben, die sich mit diesem Zustand nicht zufrieden geben wollen. Sie feilen und schleifen, quälen sich tagein tagaus, um eine Verbesserung ihrer abgelieferten Qualität in Bezug auf Arbeit, Freundschaft, Hobby – um nur einige Bereiche zu benennen – zu erreichen.


Dabei ist ein solches Ziel lobenswert, wenn nicht edelmütig. Hätten nicht kluge Köpfe sich den Ihrigen zermartert, dann lebten wir heute, wie in der Steinzeit. Fakt!


Was ist aber, wenn der Drang zur Perfektion zum Wahnsinn führt? Ich denke, das Erkennen der eigenen Grenzen ist ein wesentlicher Faktor, um dem zu entgehen. Die Fähigkeit, Grenzen auf zu spüren, ist uns angeboren, geht aber verloren, wenn ich mich in etwas hinein steigere. Der Grenzübertritt wird gewagt und kann katastrophale Konsequenzen zur Folge haben: Ich verliere das Gefühl für das Leben, konzentriere mich mehr auf das Unmögliche, als auf das Wesentliche. Ich vernachlässige Menschen und Dinge, die mir bisher wichtig waren, die mir vielleicht sogar zum bisherigen Erfolg verholfen haben, oder dazu beitrugen.


Genau genommen sperre ich mich sogar gegen die Natur. Sie lehnt es ab, die Welt so zu belassen, wie sie ist. Mit jedem Tag treten leichte, kaum merkliche Veränderungen ein. Erst dadurch erhält unsere Existenz die würzige Eigenschaft, interessant zu sein.


Sicher gibt es sogar Themen, die ich perfekt abhandeln kann. Eins plus Eins sind nun einmal Zwei. Alles, was logisch ist, kann perfekt beherrscht werden. Doch zugegeben: Dort ist die Messlatte so niedrig gelegt, dass ein Jeder sie überspringen kann.


Es geht hier um das Erkennen unserer Grenzen. An diesen sollten wir uns orientieren. Alles weitere erledigt die Natur für uns.


Was ich im Übrigen derzeit auch an den ganzen politischen Maßnahmen anprangere: Ich habe das Gefühl, dass nach einer Universallösung gesucht wird, die uns auf einen Schlag alle Probleme beseitigen könnte.


Mein Gott: Lasst uns doch einfach mal mit dem Erreichten zufrieden sein. Ich höre immer nur Wachstum: Steigerung: Mehr: Mehr: Mehr.


Manchmal ist „Weniger" angebracht, um Zustände zu stabilisieren, oder zurück liegende „Goldene Zeiten" zurück zu holen. Die Natur. Sie ist die Einzige, die perfekt funktioniert. Sie wird alles regulieren: Die Geburtenrate, das durchschnittliche Lebensalter, den Bestand des Kabeljau, die Kartoffelernte.


Wir müssen sie nur gewähren lassen. Wenn wir aber den Kampf gegen sie aufnehmen, werden wir unterliegen. Leider befinden wir uns bereits im Krieg mit ihr. Gewarnt sollten wir sein. Sie hat uns ihre gefährlichen Waffen gezeigt.


Also: Lasst uns wieder auf das Wesentliche übergehen: Unser Leben zu leben. Das geht am besten gemeinsam mit viel Verständnis für den Nächsten. Der Wille zur Perfektion kann uns nur im Weg sein. Wie ich bereits vorher erwähnte: Er führt zu Gefühllosigkeit und Vernachlässigung, zu Einzelgängertum, zur Konzentration auf die eigenen Interessen und derer Erreichen mit rohen Mitteln.



03. März 2007

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George Orwells 1984


Wer hat diese glänzend erzählte Zukunftsvision des großen Essayisten George Orwell nicht während seiner Schulzeit lesen müssen. Zumindest jeder, der eine Oberstufe besuchte. Schon zu meiner Schulzeit gegen Ende der siebziger Jahre gingen gewisse Gedankengänge mit der Wirklichkeit konform. Ich denke da zum Beispiel an die Bespitzelungstechniken, an die Repressalien gegen systemfeindliche Staatsangehörige sozialistischer Staaten. Auch das Klassensystem, dass es doch offiziell im Sozialismus nicht gab, aber dennoch bestand zwischen Parteimitgliedern und dem gemeinen Volk (bei George Orwell den „Proles").


Orwell schuf sein Werk bereits in den auslaufenden vierziger Jahren, da war er bereits stark gezeichnet durch seine Tuberkuloseerkrankung. Kurz vor seinem Tod im Jahr 1951 kam es glücklicherweise noch zur Veröffentlichung. Den Erfolg hat er nicht mehr erlebt, aber er wusste, dass sein Werk unbedingt veröffentlicht werden musste.


Erschreckend ist, wie sehr unsere Gesellschaft sich nach diesen Aussagen gerichtet hat, ob bewusst oder unbewusst. Kriege werden organisiert, damit die Wirtschaft floriert. Menschen können oder könnten ähnlich dem System des „Großen Bruders" und der „Inneren Partei" dauerhaft überwacht, jeder ihrer Schritte beobachtet, jeder Aufenthaltsort bestimmt werden.


Nun, bei allen Möglichkeiten sind wir in der Praxis noch nicht dort angelangt, aber Grausen bereitet mir die Vorstellung, dass eine Ortung des Mobiltelefons jederzeit möglich ist, die Überwachung der Mitarbeiter durch die Arbeitgeber in England sogar ohne Vorwarnung erlaubt ist. Auch Kameras häufen sich zunehmend, auf Flughäfen, in Bahnhöfen, in Banken und anderen Verwaltungsgebäuden. Computer können angezapft und sämtliche Daten, auch privater Natur gelesen, ausgewertet, genutzt werden. Auf Knopfdruck weiß etwa ein Unternehmen aus den USA, welchen Tagesumsatz seine kleine Filiale in Pusemuckel am Tag erzielt hat. Das schlimmste: Nur die Zahlen sind entscheidend für Maßnahmen. Völlig emotionslos und kalt werden große Firmen heute geleitet. Die Gefühlskälte dringt inzwischen bis in untere Abteilungen vor. Wer nicht spurt wird weg gemacht.


Ich wehre mich dagegen, infiziert zu werden, und mit mir viele Andere. Doch ist mir das Ertragen der heutigen Verhältnisse schwer. Das Gefühl, ausgebeutet zu werden, Marionette zu sein, immer noch mehr geben zu müssen für die gleiche Gegenleistung, um anerkannt zu sein, ist frustrierend für jemanden, der so gerne an die Portion Gutes glauben möchte, die in jedem Artgenossen zu finden ist.


23.10.2007

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Der Köder muss dem Fisch gefallen - nicht dem Angler


Als ich kürzlich diesen Aphorismus las (in geschäftlichem Zusammenhang), begannen meine Gedanken zu rotieren.


Zunächst dachte ich, da ist etwas Wahres dran. Es hörte sich sehr klug an. Doch so einfach war ich nicht bereit, diese Weisheit uneingeschränkt gelten zu lassen. Ich fing an, die Aussage in ihre Wörter zu zerlegen, versuchte den Sinn jedes Wortes zu definieren.


Wo ein Köder ist, dort ist ein Ziel, das hier nicht ausgesprochen wird, jedoch präsent ist, wie die Sonne, die sich hinter den Wolken versteckt.


Ein Köder ist für sich betrachtet etwas scheinbar Gutes, ein Blendwerk. Der Angler hingegen sieht den wahren Sinn des Köders. Nur aus diesem Grund setzt er ihn ein. Folglich muss er ihm gefallen. Der Fisch sieht ihn lediglich mit anderen Augen. Das Ideal lässt sich anhand eines Spiegel beschreiben.


Das Spiegelbild sieht sein reales Gegenüber, den Angler. Wenn beide sich gefallen, so ist das ideal. Zwischen beiden, der Realität und der Illusion steht der Spiegel, der die Funktion des Köders inne hat. Der Angler weiß durch seine Intelligenz, dass sein Spiegelbild nicht greifbar ist. Allerdings kann er das Bild (den Fisch) beeinflussen, indem er sich selbst verändert.


Ich gehe also noch von der Vorgabe aus, dass der Spiegel eine Konstante ist, der Köder also unverändert derselbe ist.


Der Betrachter formt sich also solange, bis er sich gefällt.


Aber, dachte ich, das ist doch gerade die Aussage, dass nicht ihm gefallen muss, was der Spiegel präsentiert, sondern dem seelenlosen Spiegelbild muss die Realität gefallen, die doch nur scheinbar gut ist.


Habe ich vielleicht die Rollen falsch besetzt? Muss der Fisch zum Betrachter gemacht werden und der Angler sich zum Spiegelbild degradieren?


Nein, alles Quatsch, dachte ich, dann müsste ich auch die Intelligenz transferieren. Der Betrachter wüsste nicht mehr, dass er echt ist, wohingegen die Illusion erkennen müsste, dass sie eine Einbildung ist, obwohl ihr doch die Rolle der Materie zustünde.


Nächster Gedanke: Ist denn ein Spiegelbild Einbildung? Wohl kaum, gestand ich mir ein. Es ist Wirklichkeit, kann sich bewegen, verändern, kann altern. Greifbar ist es nicht (das erwähnte ich bereits). Es ist eingesperrt und kann nicht von hinten betrachtet werden...


Aber zurück zum Fisch: Er ist eingesperrt in seinem Lebenselixier, dem Wasser, jedoch nicht mehr als der Angler im Sauerstoff gefüllten Raum. Er kann betrachtet werden und zwar von allen Seiten. Er atmet, ruht, frisst und verdaut; ist von Leben erfüllt.


In vielen Dingen unterscheidet der Fisch sich nicht vom Angler. Ich habe Hundebesitzer beobachtet und festgestellt, dass sich Herrchen (oder Frauchen) und Hund nach langjähriger Zusammengehörigkeit mehr und mehr ähneln. Sie nehmen gleiche Züge an, entwickeln den gleichen watschelnden Gang oder bekommen ihre Falten an gleichen Körperstellen. Wenige Verhaltensweisen legt der Hund nicht ab,... und der Mensch nimmt sie nicht an: Etwas wie das Beinheben beim pinkeln, oder das Schwanzwedeln (was bei Frauchen ja auch nicht möglich wäre).


Bei Angler und Fisch ist das Anpassungsverhalten nicht Usus. Äußerliche Ähnlichkeiten sind selten festzustellen, wenn der Fisch auf dem Küchentisch liegt und der Fänger ihn begutachtet. Sie laufen aber auch nicht jahrelang Seite an Seite über die Wege. Daran könnte es liegen.


Also: Ähnlichkeiten: Das bedeutet: Sie sind beide entscheidungsfähig. Der Angler ist aber nicht frei, wie der Fisch. Er soll schließlich den Köder nach dem Wohlgefallen des Fisches auswählen. Er selbst soll ihn gar nicht mögen.


Ich dachte wieder an den Spiegel und wie ich darauf gekommen war, anhand eines Spiegels die Erklärung zu versuchen. Nein, nein, der Spiegel zeigte doch, wie es nicht sein sollte. Aber..., ja, das ist es! Ein Trick, eine Täuschung! Richtig: Ein Köder ist eine Täuschung. Es gibt doch diese verspiegelten Scheiben, die einseitig durchsichtig sind. Der Angler steht innen. Er beobachtet den Fisch jenseits der Scheibe. Der ahnt überhaupt nicht die Anwesenheit des Beobachters. Er sieht sein Spiegelbild, das ihm vertraut ist, schwimmt darauf zu, erschreckt sich, als er gegen die Scheibe knallt und bleibt benommen liegen. Na, wenn das kein guter Köder war.


Irgendwie war ich ganz stolz auf meinen Vergleich, wenn ich auch nicht einsehen mochte, warum der Köder dem Angler nicht gefallen muss und überhaupt, aus welchem Grund ein weiterer Vergleich notwendig war, denn es war bereits als Aphorismus zu verstehen, als ich es gelesen hatte: Der Köder muss dem Fisch gefallen - nicht dem Angler.


Kann aber auch dem Angler gefallen. Muss jedoch nicht. Irgendwie nun doch einleuchtend. Mir fielen Weisheiten ein, wie: „Man soll sich selbst nicht so wichtig nehmen", „Der Kunde ist König" oder „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied".


Aus geschäftlicher Sicht betrachtet zählen demnach nur die Interessen des Käufers. Der Verkäufer soll die Wünsche des Käufers erfüllen. Was ist mit seinen eigenen Interessen? Er wird doch nicht um jeden Preis verkaufen? Das kann nicht gemeint sein. Ich grübelte. Der Köder..., der Köder..., ist eine Täuschung..., nein, er ist keine Täuschung. Der Wurm ist delikat, aber er hängt an einem Haken. Eine Falle ist das. Jetzt bin ich selber beinah reingefallen, dachte ich und rieb mir über die heiße Stirn. Immer war mir der Köder durch den Kopf gegangen. Den Haken hatte ich nicht gesehen.


Eine seltsame Traurigkeit befiel mich. Ist es gut, jemanden in die Falle zu locken, um ans eigene Ziel zu gelangen? Das fragte ich mich, weil mir klar wurde, dass der Verkäufer keineswegs seine Interessen vernachlässigt. Mit ziemlicher Sicherheit treibt ihn die Aussicht auf den eigenen Profit hauptsächlich an. Der Angler denkt an seinen knurrenden Magen. Das der Fisch sein Leben lassen muss, verdrängt er. Genau genommen ist dieses Verhalten schizophren, denn nach der Mahlzeit kann sich durchaus etwas wie Reue zeigen.


Ich kam mir hilflos vor, aber eines war gewiss: Immer wieder während meines Lebens hatte ich ab und an ein eigene Handlung, die aus Überzeugung begangen ward, hinterher als falsch, als gemein, unfair oder sogar als grässlich eingestuft und verurteilt. Begleitet waren diese Urteile von dem Vorsatz, niemals wieder so zu tun. Was soll ich sagen: Wenn der Magen knurrt, wird der Angler rückfällig.


Gerade wollte ich einen neuen Gedanken fassen: Jesus ist als Menschenfischer bekannt, ging es mir durch den Kopf. Hatte er etwa auch Köder benutzt?


Da stupste meine Geliebteste mich an. Sie saß neben mir und fragte: „Bist du eigentlich hier? Du wirkst mal wieder so abwesend, ganz weit weg."


„Ach", sagte ich, „ich habe gelesen, dass der Köder dem Fisch gefallen muss und nicht dem Angler."


„Na ja, das kann wohl zutreffen", war ihr knapper Kommentar.


„Ja, aber", protestierte ich, da sie mich verständnislos ansah, „wenn ich das mal auf Jesus beziehe, der hat Menschen gefischt. Ein Köder ist eine Falle. Meinst du etwa..."


„Jesus hat sich geopfert", lachte sie, „er hat sich selbst zum Köder gemacht, verstehst du? Nun komm, trink deinen Tee und mach dir nicht so viele Gedanken."


Mit offenem Mund sah ich meine Frau an und wunderte mich, wie schnell und klar sie solche Sätze analysieren und beiseite legen konnte. Ich mache alles einfach nur kompliziert, anstatt der Natur freien Lauf zu lassen. Der Fisch ist wahrscheinlich längst ungeschoren (ach nein, dass sind ja die Schafe), sage ich einfach lebend in tieferes Gewässer zurück geschwommen. Vielleicht ist dies mein undankbares Verdienst.


03.11.2007

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Am weitesten sieht, wer am höchsten fliegt


Klar,  sagte ich zu meiner Tochter, die nicht jeden vermeintlich schlauen Satz gleich interpretiert, analysiert und der Prüfung auf Allgemeingültigkeit unterzieht, sondern ihn einfach nur wörtlich nimmt.


Klar, entgegnete ich also: Ein Vogel, der hoch fliegt, sieht sehr weit. Aber hier steht: Das ist ein Sprichwort. Dabei hob ich den Zeigefinger, nahm ihn aber gleich wieder herunter, weil es mir nicht als angebracht erschien, den Zeigefinger zu heben. Ich schwieg eine Weile. Meine Tochter unterdes sah mich erwartungsvoll an.


Schau mal, begann ich endlich, was damit gesagt werden soll..., na ja, Du kannst das deuten, wie Du willst. Es könnte zum Beispiel bedeuten, dass der es zu was bringt, der hoch motiviert ist, oder die größte Intelligenz besitzt, oder das umfangreichste Wissen hat.


Doch hoch hinauf Fliegen erfordert Mut. Demnach wird also auch der Mutige belohnt. Außerdem geht es demjenigen am besten, der fleißig ist. Es lässt sich nicht bezweifeln, dass dieses Sprichwort auf vieles zu beziehen und auch wahr ist. Ob erstrebenswert ist, so hoch hinaus zu fliegen, damit man weiter sieht, als Andere, steht auf einem gesonderten Blatt...


Ein anderes Blatt?


Ja, das heißt, dass dieser Satz polarisiert, äh..., er eröffnet das, was geschieht, wenn Du hoch fliegen würdest, gleichzeitig müsste demnach der, der nicht fliegt, blind sein. Ob das moralisch aber in Ordnung ist, muss getrennt beurteilt werden.


Wieso? Versteh’ ich nicht.


Dann schwiegen wir eine Weile. Ich sah lächelnd vor mich hin, was jedoch eine Tarnung war, denn ich hatte keine Lust, mir weitere Gedanken darüber zu machen. Das Ganze erschien mir viel zu kompliziert. Sollten wir nicht alle auf einer Höhe fliegen, wie die Wildgänse im Herbst. Wie wundervoll organisiert sie sind. Warum ausbrechen, warum höher hinaus wollen, als Andere? Aber verlangt denn das der Satz? Es war doch nur eine nüchterne Feststellung. Wie empfindlich ich wieder war. Schrecklich. Vielleicht will das Sprichwort auch nur Schlafende wecken. Es kann mitreißen, aufbauen, Positives bewirken. Klänge besser, sagte ich mir, wenn da hieße: Je höher ihr fliegt, umso weiter sehet ihr.


Gemeinsam sind wir stark. Am höchsten und am weitesten deutet auf Ausbruch hin...


Aber Ausbrecher brauchen wir, fiel mir auf. Die hat es immer wieder gegeben. Die, die Richtungen vorgeben. Doch die muss man in zwei Gruppen einteilen: Gruppe I: steht im Dienst der Menschheit: Gruppe II: macht nur den eigenen Weg frei und lässt ihn hinterher zuwuchern.


Meine Tochter wurde quengelig. Gott sei Dank. Ich sagte: Na klar. Wer am höchsten fliegt, kann am weitesten schauen.

 


09.03.2008

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Denken, Warten, Fasten - der Weg zum Ziel


Hermann Hesse lässt seinen Siddharta sagen: Denken können, Warten können, Fasten können. Das muss ich und habe es gelernt. Damit erreiche ich jedes meiner Ziele.


Wie wahr, aber nicht einfach umzusetzen. Was sagen will, dass jede Art von Abhängigkeit abgelehnt wird. Das ist Freiheit. Selbst, wenn ich denke, dass wir uns nicht ganz befreien können, sollte ich anhand dieses Leitsatzes von Fall zu Fall prüfen, ob ich in eine weitere Abhängigkeit geraten möchte; und solche Abhängigkeiten gibt es zuhauf. Manche machen sogar Sinn, weil sie Bedingung für spätere Unabhängigkeit sind, wie z.B. ein Hypothekendarlehen.


Siddharta hätte hierauf die passende Antwort. Er würde anmerken: Du wärst auch ohne diese Abhängigkeit später frei. Bedenke: Ich habe gelernt zu fasten, und weil ich das kann, und auch warten, wendet sich alles zum Guten. So auch bei Dir.


Es ließe sich auch so ausdrücken: Wer nicht sein Glück erzwingen will, zu dem kommt es von selbst.


Georg Danzer, der großartige österreichische Liedermacher, sprach einmal von der Freiheit als wundersamen Tier, das, falls man es einsperrt, augenblicklich weg ist.


Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Glück. Stets habe ich für mich empfunden, dass die Sache glücklich macht, nicht deren Besitz. Ich kann mir etwas Begehrenswertes anschaffen und in eine Vitrine stellen. Hunderte von Malen werde ich daran vorüber gehen und es mit jedem Mal weniger beachten. Glücklich war ich am meisten - und bezaubert -, solange dieser Schatz noch frei, nicht in meinem Besitz war.


Das Glück lässt sich nicht einfangen. Ich muss es nehmen, wie es kommt und wieder loslassen, um ein neues empfangen zu können, Tag für Tag. Ohne Erwartung muss ich sein, damit ich es sehen, fühlen, empfangen und erleben kann.


 

26.03.2008

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Ein neuer Präsident – eine neue Chance


Nun ist Barack Obama zum neuen Präsidenten des mächtigsten Staates der Welt geworden. Seit Monaten hat mich die ständige Präsenz dieses US-Wahlkampfes in den Medien genervt, dennoch habe ich auch erkannt, wie überaus wichtig den Menschen dieses Thema war, und wie sehr eine Veränderung herbei gesehnt wurde.


Meine Meinung zu George W. Bush ist seit Jahren eine äußerst negative, als ganz besonders schrecklich empfand ich die Wiederwahl nach vier Jahren Präsidentschaft. Die Entscheidung der Amerikaner war für mich nicht nachvollziehbar, denn zu diesem Zeitpunkt war bekannt, dass er auf dem besten Weg war, den Staat zu ruinieren. Vielleicht hätte das Unwetter über New Orleans eher kommen müssen. Ich glaube, dass etwa zu jenem Zeitpunkt das Volk begriffen hat, dass es ihrem Präsidenten immer nur um eines ging: Macht. Er wollte die uneingeschränkte Übermacht der USA, ist manche Wege ohne seine Verbündeten gegangen und hat in New Orleans auch gezeigt, dass er nicht alles nur für sein Volk tat und auch nicht für sein Volk alles ihm mögliche unternahm.


Sein großes Ziel, die ganze Welt zu demokratisieren, könnte man ja noch als ehrenwert ansehen, aber der Weg, den er dafür gewählt hat, ist eindeutig der Falsche. Was hat es mit Demokratie zu tun, wenn ich zur Waffe der Folter greife, um Menschen Wissen zu entlocken, dass ich benötige, um mein Ziel zu erreichen, (selbst wenn es Menschen sind, die gemordet haben)? Außerdem sollten wir andersartige Kulturen neben unserer eigenen akzeptieren und respektieren. Wie können wir so vermessen sein und unser System als das einzig erstrebenswerte ansehen? Seit mehr als einem halben Jahrhundert werden in unseren Regionen keine Raketen mehr abgeschossen, in unseren Gefängnissen werden keine Menschen gequält. Ein Erfolg der Demokratie. Unsere Körper leben in Frieden, unsere Psyche allerdings nicht.


Zurück zu Bush. Ihm möchte ich ein Zitat von Martin Luther King vorhalten: Es gibt keinen Weg zum Frieden, wenn nicht der Weg schon Frieden ist.


Gleichzeitig wünschte ich, dass Barack Obama, der zukünftige mächtigste Mann der Welt, sich nach diesem Satz richten wird. Für ihn sehe ich die erste große Gefahr darin, dass er im eigenen Land aufgrund seiner Hautfarbe einige Feinde haben wird, die ihm sogar nach dem Leben trachten werden. Keine gute Voraussetzung für einen friedlichen Weg.


Ich bin auch sicher, dass sich die Probleme der USA nicht in kurzer Zeit beseitigen lassen. Vorstellen kann ich mir, dass Obama ein guter Präsident wird, falls man ihm die nötige Zeit gewährt, seine Pläne zu verwirklichen und er selbst die nervliche Stärke und innere Ruhe besitzt, die er brauchen wird, um mit den Leuten im eigenen Land um zu gehen, die er niemals umstimmen können wird, so gut er auch seine Geschäfte führt: Die Rassisten.



15.11.2008

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Verrückte Welt - Die Diskussion um das Paintball-Verbot


Die Politik diskutiert derzeit ein per Gesetz verordnetes Verbot des inzwischen beliebten Paintball-Spiels. Hierbei beschießen sich gegnerische Mannschaften mithilfe einer Druckluftpistole mit Farbkugeln.


Ich spreche ganz bewusst von „Spiel“, denn das ist es für mich, und keineswegs eine „Simulation der Tötung von Menschen“, wie es der innenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Herr Dieter Wiefelspütz, so (meine Meinung) unsinnig formuliert hat. Er und seine Kumpane erkennen in dem Spiel eine Sittenwidrigkeit und einen Verstoß gegen die Menschenwürde.


Nachdem nun das Verbot wohl wenig Chancen auf Verabschiedung, nachdem es über das Internet massenweise Proteste gehagelt hat, drückt sich Herr Wiefelspütz etwas verwirrend aus. Von einem Verbot per Gesetz will er plötzlich nichts mehr wissen, ganz im Gegenteil hat er sich von vornherein gegen ein Verbot ausgesprochen und weist auf seine persönliche Meinung, wie oben beschrieben, hin, die er weiterhin vertritt. Seinen Kindern würde er das Paintball-Spiel niemals gestatten. Doch persönliche und politische Meinung sind zwei Paar Schuhe. Na, dann ist ja alles prima für ihn gelaufen. Er stand auf der Seite der Gewinner, und das möchte ein Politiker in jedem Fall. Wer sollte ihn sonst wählen wollen?


Wie ich das sehe, sollte jedem seine persönliche Meinung zugestanden werden, und selbst ich könnte mich für das Spiel nicht begeistern, … aber nur, weil ich etwas gegen verschmierte Shirts habe. Was ich aber gern von Herrn Dieter Wiefelspütz und allen Gleichgesinnten zu wissen begehre, ist, wie sie zu Wasserpistolen und Pumpguns stehen, oder zu Papierschleudern. Spielzeugwaffen, mit denen Menschen beschossen werden.


Diese ganze große Diskussion um Waffenverbote oder die Zensur von Ballerspielen kam nach den jüngsten Amokläufen erneut auf. Der Junge, der in Winneden viele Menschen willkürlich erschossen hat, und anschließend sich selbst, ist von seiner Umwelt als ruhiger, freundlicher, unauffälliger Typ beschrieben worden. Dann fand man irgendwo auf seinem PC ein Ballerspiel. Suspekt. Der Vater, oje, der war Sportschütze, …oder Jäger? Egal. Wer wild um sich schießt, muss zu viel mit Waffen in Berührung gekommen sein.


Ist das nicht zu einfach, frage ich mich? Ist der Halstuchmörder bei Edgar Wallace zu einem Halstuchmörder geworden, weil er in einem Textilgeschäft aufgewachsen ist? War der Vater des Giftmörders ein Apotheker? Meine Tochter ist tagtäglich von vielen Büchern umgeben, darunter einige schwere. Ist sie dadurch gefährdet? Wird sie bald mit Büchern unter dem Arm durch die Gegend laufen, um damit wildfremde Leute zu erschlagen, oder, …weil Papier gut brennt, …wird sie zündeln?


Was will ich damit sagen? Die Gründe für Gewalt und tot bringende Kurzschlusshandlungen sind so einfach nicht zu erfassen. Es hat immer wieder auch erwachsene Amokläufer gegeben, aber bleiben wir bei den Kindern, meinetwegen Jugendliche oder Heranwachsende genannt. Sie brauchen Fürsorge. Kinder brauchen die Zeit und die ungeteilte Aufmerksamkeit ihrer Eltern und Vertrauenspersonen. Eltern sollten Vertrauenspersonen sein, sind sie aber bedauerlicherweise nicht immer. Kinder fühlen sich allzu oft mit ihren Ängsten und Nöten allein gelassen. Das ist doch eigentlich nicht so schwer zu verstehen, weil wir alle einmal ein Kind waren. Wir Erwachsenen müssen aber bereit sein, auf unsere Kinder einzugehen. Unsere Eltern haben das vielleicht besser hingekriegt.


Leider müssen heute in vielen Fällen beide Elternteile für Geld arbeiten, um über die Runden zu kommen. Dennoch arbeitet niemand rund um die Uhr. Wenn auch die Freizeit knapp bemessen ist, sollten sich Zeiten finden, die gemeinsam im Kreis der Familie verbracht werden: Das Frühstück, das Abendessen, ein paar Stunden am Sonntag oder an anderen freien Tagen. Diese Zeit zu finden und einzuhalten, verlangt nach etwas Disziplin, liegt im Verantwortungsbereich Erziehungsberechtigter und ist nach meiner Einschätzung das beste Rezept für eine Besserung der Zustände.


Unsere Kinder und Kindeskinder erwachsen in einer Zeit, die sich rasant beschleunigt. Die Medien machen es möglich. Durch sie erfahren nicht nur wir, sondern viel mehr unsere Kinder sehr früh, was heute technisch möglich ist, wie skrupellos Machtbesessene handeln, dass es nur noch zwei Möglichkeiten ihres späteren Seins gibt: Macht oder Ohnmacht, Oben oder Unten, Tretender oder Getretener. Das gemäßigte Dasein der Mittelschicht verschwindet zusehends. Wie sollten unsere Kinder nicht Angst vor der eigenen Zukunft haben, wenn niemand sich die Zeit nimmt, sie stark dafür zu machen? Amokläufe sind Verzweiflungstaten. Da befinden wir uns bereits in einem Stadium, in dem der Hilferuf längst verklungen ist. Darüber sollten wir nachdenken.


Nun aber zurück zum Waffenverbot: Ich kann mich noch gut an meine Pflichtzeit bei der Bundeswehr erinnern. Wer sich dort dem Schießen verweigerte, musste in den Bau und galt anschließend als vorbestraft. Wir schossen auf Pappsoldaten. Na, wenn das mal nicht im Sinne des Herrn Wiefelspütz ebenso eine Simulation der Tötung von Menschenleben war. Verrückte Welt. Töten ist eben nicht gleich Töten.


Die Ironie dieses heutigen Tages war die Meldung, dass ausgerechnet Deutschland weltweit den größten Anteil am Waffenhandel hat. Mit all diesen aus Deutschland stammenden Waffen sollen doch hoffentlich nur die Kirschen von den Bäumen geschossen werden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass unsere Regierung nicht längst die Produktion per Gesetz verboten hätte, falls die Waffen den Zweck erfüllen sollten, um Menschenleben zu vernichten. Nicht wahr, Herr Wiefelspütz, das würde doch eine Missachtung der Menschenwürde darstellen.


Übrigens: Bellende Hunde beißen nicht. Am PC ballernde Jungs oder hier die Paintballer sind Spielkinder und noch lange keine Mörder. Und … Actionfilme stumpfen offensichtlich ab. Manch einer neigt vielleicht zur Gewalt, ein anderer ignoriert sie einfach. Es hat immer Gewalttäter und Friedliebende gegeben, aber keinen derartigen Mangel an Zivilcourage, wie wir ihn heutzutage erleben: Da wird ein alter Mann im Bahnhof getreten und schikaniert, doch alle Nichtbeteiligten schauen tatenlos zu, bleiben also auch nicht beteiligt.


Wie wäre es mit Appell statt Verbot? Mensche, die füreinander da sind, die quälen sich nicht. Das funktioniert aber nicht mit Auswahlverfahren. Jeder muss seinen Nächsten lieben, wie sich selbst, und jeder muss bei sich selbst beginnen, wenn er etwas verändern möchte.


Die große Aufgabe der Politik ist mehr denn je, die Gemeinschaft der Familie zu stärken, die kleinste Gemeinschaftszelle unserer Gesellschaft. Das ist das A und auch das O.


14.05.2009

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Sich selbst vergessen und andere lieben - Was bedeutet das?


Als ich diese Aussage von Tolstoi in meine Sammlung der Lebensweisheiten einfügte – und durchaus darin einen Lehrsatz für unser Leben erkennen wollte, da geriet ich bei der Vertiefung in den Gedanken doch einigermaßen aus der Bahn, denn wenn bereits die Umsetzung – davon bin ich überzeugt -  zwar sehr edel, jedoch einem Ideal entspricht, das wahrscheinlich für die meisten unter uns höchstens zeitweilig erreicht werden kann, so muss zunächst doch auch die ganze große Bedeutung dieses freundlichen Wortes erfasst und definiert sein.


Falls jeder sich selbst in den Hintergrund stellen und auf die Schicksale und Bedürfnisse anderer eingehen möchte oder würde, so hätten wir sicher eine gute Welt. Rücksichtslosigkeit und übertriebene Ich-Beziehung haben sich in unserer Gesellschaft zu einem wichtigen Faktor für einen schnellen und steilen Aufstieg etabliert. Wer in erster Linie an sich denkt, hat keinen Sinn für Vergangenheit und Zukunft, was heißen will, dass Fehler und Erfahrungen vergangener Zeiten gern verdrängt werden und die Nachwelt in derart weiter Ferne liegt, dass es keinen Sinn macht, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Wer morgens in den Spiegel schaut und sein unzufriedenes Ebenbild sieht, der fühlt sich entweder so schlecht dabei, dass er sich gleich verkriecht, oder er sinnt über Möglichkeiten nach, wie dieser Unzufriedenheit entgegen zu wirken ist: Wie komme ich zum schnellen Geld? Wie kann ich meine Machtposition ausbauen? Wie kann ich den Staat (das sind unsere Mitmenschen, denn wir sind der Staat) an meinen Ausgaben beteiligen? Wen kann ich heute mobben? Wer gibt den größten Rabatt?


Das sind Denkansätze, die uns tagtäglich begleiten. Wer ganz ehrlich ist, wird zugeben, dass ihm solche Gedanken wenigstens zum Teil nicht fremd sind – es sei denn, bei demjenigen handelt es sich um eine der wenigen Ausnahmen. Dabei kann jeder sein Glück, seine Zufriedenheit, so einfach finden, indem er sich nicht selbst ständig in den Fokus rückt. Die größte Erfüllung findet sich tatsächlich in der Liebe zu anderen Menschen. Die eigene Unzufriedenheit ist unbedingt in dem Mangel daran zu finden. Sich selbst vergessen und andere lieben! Diese Fähigkeit kann das größte Glück sein. Es erklärt nämlich nicht die eigene Bedeutungslosigkeit. Genau das Gegenteil ist der Fall. Ich vergesse doch lediglich mich selbst, gewinne dabei aber ganz viele andere Menschen. Handelt jeder hiernach: Sich selbst vergessen und andere lieben, dann wird jedem einzelnen so viel Liebe, Wertschätzung und Anerkennung zuteil, wie er sich selbst niemals entgegenbringen kann.


Wie drücke ich aber die Liebe bei einem Menschen aus, der trotz all meiner Bemühungen offenbar keine Lust oder Motivation verspürt, in gleicher Weise zu begleichen? Tatsächlich habe ich soeben, wie aus dem Nichts „begleichen“ geschrieben. Das ist des Pudels Kern. Da geht das ganze noch eine Stufe weiter. Nicht außer Acht gelassen werden darf, dass „sich selbst vergessen“ voraussetzt, dass von vornherein jeglicher Ausgleich ungewiss ist. Warum sind so viele Menschen an der Börse bereit, in ein Papier zu investieren, von dem sie nicht wissen, was es beim Verkauf wert sein wird? Das ist nichts anderes. Nur die Spekulanten werfen die Flinte gleich ins Korn. Die Idealisten investieren, weil sie langfristig an einen Erfolg glauben. Unser Solidarsystem bezahlt einem Kranken die Behandlung, auch wenn er weniger eingezahlt hat, als die Heilung letztendlich kostet. Das ist gesetzlich verankert, und das ist gut so. Jeder einzelne sollte auch für sich so handeln, wenn er mit anderen Menschen umgeht. Das ist schwer, macht aber in jedem einzelnen Fall glücklicher.


Noch einmal komme ich auf das Ausdrücken der Liebe zurück. Und da bin ich ratlos: Helfe ich einem Menschen, indem ich ihn gewähren lasse – ohne wenn und aber – wenn ich schon soweit bin, dass ich keinen Anspruch auf Ausgleich erhebe – nur an den Betreffenden denke? Oder muss ich im Einzelfall streng sein, weil ich an seine Zukunft denke. Es geht ja wohl nicht nur um das „sich selbst vergessen“. Ich kann durchaus aufopferungsbereit sein, während ich mir langfristig betrachtet keine Gedanken über die weitere Entwicklung des anderen Menschen mache. Liebe heißt wohl auch, Bequemlichkeit aus dem Weg zu räumen, sich mitunter unbeliebt zu machen.



23.01.2010

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Auseinandersetzung mit dem Gefühl der Liebe


Wieder mal was Kompliziertes. Tolstoi ist schuld. Er legt einer seiner Personen folgende Worte in den Mund: „Wenn man jemand lieb hat, so liebt man den ganzen Menschen, wie er ist, und nicht wie man ihn haben möchte.“ Anna, die Protagonistin in dem Roman, schweigt, weil die Bemerkung ihrer Schwägerin sie verwirrt und ihr nicht einleuchten will.


Ich dagegen habe das Ausgesprochene sofort verstanden und für zutreffend befunden. Denke ich!


Erst Tage später geht mir noch einmal die Reaktion Annas durch den Kopf. Warum hat sie das nicht begriffen, frage ich mich. Endlich schaltet sich mein Alter Ego ein – mein guter, zuweilen unbequemer Freund, den ich liebevoll auch gern mit „Egon“ anrede, etwa so, wie manche Menschen ihren großen Zeh „Dicker Heini“ nennen – und will mir eine Diskussion aufzwingen, obwohl ich gar keine Zeit habe. Das scheint Egon aber nicht weiter zu stören. Schließlich habe ich eine Frage in den Raum gestellt.


„Fragen müssen beantwortet werden“, ermahnt er mich, „da führt kein Weg daran vorbei. Ich weiß doch, dass Du nicht Ruhe geben wirst, ehe alles geklärt ist.“


„Ja, aber doch nicht jetzt.“


„Warum hast Du aber jetzt danach gefragt?“


„Weiß nicht. Weil es mir gerade durch den Kopf ging?“


Ich habe meine Gedanken bereits auf andere Dinge gerichtet, rede nur noch unkonzentriert leise vor mich hin und Egon lässt sich durchaus täuschen. Er bemerkt meine Unaufmerksamkeit nicht; Beharrlichkeit kann man ihm jedoch nicht absprechen.


„Schau mal“, hallt seine Stimme in meinem Schädel, „ich könnte mir vorstellen, dass Anna etwas Entscheidendes sofort begriffen hat, dass nämlich dieses wunderschöne Wort ihrer Schwägerin sich immer nur auf einen Lebensabschnitt bezogen als Wahrheit erweisen kann.“


„Was heißt denn das?“, frage ich – zugegeben – desinteressiert im Gedenken an die zu erledigenden Aufgaben, die ich nun nebenher abzuarbeiten versuche.


„Ich denke an eine Momentaufnahme“, erklärt Egon, „oder besser – weil präziser ausgedrückt – einen begrenzten Zeitraum. Lass mich das so erklären: Zunächst einmal verliebe ich mich grundsätzlich nur in einen Menschen, der so ist, wie er ist, nämlich weil er so ist, wie ich ihn haben möchte. Es ist doch so: Ich kann in der Tat jeden achten und respektieren, der nicht meinem Ideal entspricht; sprechen wir aber von diesem edlen Gefühl der Liebe, dann ist für seine Existenz, vielleicht für sein Erwachen, am Anfang das Ideal zwingend Voraussetzung.“


„Nun mal nicht so schnell, mein Lieber, das ist mir jetzt ehrlich gesagt zu hoch. Liebe ist doch da, oder eben nicht. Es funkt, wie man so schön sagt. Da denkst Du doch nicht daran, ob Deine neue Liebe so ist, wie Du sie haben willst.“


„Papperlapapp. Denken, sagst Du? Der Denkprozess hängt hinterher, sage ich, er setzt ein, wenn Dein Gefühl bereits um die Güte der Person erkannt hat, die Du nun nicht mehr loslassen willst. Soweit ist das mit dem funken schon mal richtig. Glaube mir aber, dass Ist und das Soll müssen identisch sein, damit es funkt.“


„Das hört sich nun aber gar nicht mehr so edel an“, stammele ich, starre sekundenlang die weiße Wand an, der ich gegenüber sitze und versuche mich erneut auf meine Arbeit zu konzentrieren. In der Folge schweigt sich Egon eine Weile aus. Er grübelt, das spüre ich ganz genau, und zwar so intensiv, dass ich ihn förmlich auf seinem Stuhl sitzend das Hinterteil hin- und her schieben sehe, sich vor- und zurück wiegend, ein Bein über das andere geschlagen.


Ich habe soeben ein Telefonat beendet und eine Notiz auf einen Zettel geschmiert, als Egon zugibt, dass ich Recht habe: „Der Prozess des Verliebens“, behauptet er, „hat wirklich gar nichts Edles an sich. Purer Egoismus, fürwahr. Aber…, Maestro, je mehr ich darüber nachdenke…, was hat denn Edelmut hier zu suchen? Liebe ist einfach etwas Erfreuliches. Ich verliebe mich, ich freue mich. Falls von der anderen Seite das Gefühl erwidert wird, dann freuen sich Beide. Was hat denn Edelmut hier zu suchen?


Stell Dir aber nur einmal folgenden Fall vor. Nur exemplarisch: Du verliebst Dich in ein… sagen wir mal… abgrundtief hässliches Mädchen und gehst mit ihm eine Beziehung ein. So unansehnlich ist sie, dass alle Deine Freunde Dich bedauern, weil sie selbst niemals dazu bereit gewesen wären, sich mit dem Mädchen einzulassen. Gleichzeitig hegen sie aber auch Mitleid mit dem Geschöpf, denn sie konnten sich bisher schwerlich vorstellen, dass sie jemals einen abkriegen könnte, wenn Du verstehst, was ich meine? Alle gönnen dem Mädchen sein Glück, weil es eigentlich anständig und umgänglich ist;  und da sie nicht glauben mögen, dass Du aus Liebe, also egoistisch, gehandelt haben könntest – denn das wäre unbedingt unvernünftig – deshalb halten sie Dich fortan für einen edlen Menschen.“


„Was aber nicht der Wahrheit entspräche…“


„Ganz Recht…“, hängt sich Egon wieder ein, doch ich lasse ihn nicht zu Wort kommen:


„Zumindest nicht in der Anfangsphase, denn da hat dieser Verliebte nicht anders gehandelt, als all seine Freunde. Lediglich sein Geschmack ist verschieden. Dennoch frage ich mich, ob Liebe eine Konstante oder etwa  wandelbar ist. Ist Liebe ein Sammelbegriff für mehrere unterschiedliche Gefühle?“


„Die aber immer eine Gemeinsamkeit haben“, erlaubt sich Egon erneut dazwischen zu fahren, „…wie einen roten Faden zum Beispiel…“


„Nein, nicht zwingend.“


„Nein?“


„Nein. Entschieden nein. Du redest vom puren Egoismus. Was aber, wenn Tolstoi etwas ganz anderes ausdrücken will, was seine Anna gar nicht erkennt, weil sie anders gestrickt ist?“ Ich spiele mit meinem Kugelschreiber, drehe ihn auf dem Tisch wie ein Karussell, stoppe ihn, treibe ihn erneut an, beobachte seine durch die Reibung schnell abnehmende Energie, bis er reglos liegt, was mich fast vom Thema abbringt, weil sich die Vorstellung eines Vakuums in mein Hirn schleicht. In einem Vakuum schwebend würde er sich weiter gedreht haben. Immer weiter. Egal. Ich nehme ihn in die Hand, kritzel etwas auf den Schreibblock, lasse ihn fallen. Dann fahre ich fort:


„Zwei unterschiedliche Auffassungen von Liebe, die irrtümlich ursprünglich mit derselben Bezeichnung ausgestattet wurden. Ich sehe ja ein, dass sich der Mensch… sagen wir mal, in der Regel… oder? …nein, ich korrigiere mich: Menschen, die eine Beziehung eingehen - setzen wir mal voraus, dass sie denken, das Gefühl der Liebe erfahren zu haben – handeln aus egoistischen Motiven. Sie opfern nichts, bekommen aber unter Umständen alles, was sie wollen. Das aber, so behaupte ich, ist überhaupt noch nicht Liebe.“


Nun hat Egon aber einen Einwand: „Was ist denn Liebe? Willst Du den Begriff neu definieren?“


„Du hast doch von dem edlen Gefühl gefaselt. Genau in diese Richtung will ich, und das ist auch der richtige Weg.“ Ich seufze, und muss darüber lächeln, bevor ich in meiner Erklärung fortfahre: „Noch keine Liebe, richtig. Aus der Religion kennst Du doch die Begriffe Fegefeuer und Himmelreich?“


Egon verhält sich still. Er wartet ab.


Ich rede weiter: „Du gehst zunächst ins Fegefeuer, erlebst dort die ganzen Freuden Deiner vermeintlichen Liebe, lebst mit dem Partner zusammen, lernst ihn dabei eigentlich erst kennen, stellst irgendwann fest, dass er Interessen hat, mit denen Du selbst nichts am Hut hast. Er hat Macken, Ecken, Kanten, ja, Selbstbewusstsein. Er sagt Dir irgendwann zum ersten Mal die Meinung. Und siehe da…, du gerätst in die Opferrolle, wenn Du Deinen oder Deine Liebste gewähren lässt. Was Du opferst? Willst Du das wissen?“


Egon erkennt, dass ich eine Antwort erwarte: „Ich denke, es ist die Freiheit“, betont er kess.


„Richtig, mein Freund. Es ist die Freiheit.“


Doch auf dem Fuß folgt sein Einwand: „Ja, wie ich das sehe, ist Dein Vergleich mit Fegefeuer und Himmel dann aber falsch gewählt, oder?“


„Nun warte mal ab. Jetzt nämlich zeigt sich, ob sich Deine Beziehung zu einer Liebesbeziehung entwickelt hat. Dazu gehört, das will ich meinen, eine derbe Portion Selbstlosigkeit. Merkst Du was?“


„Nein, was denn?“


„Egoismus – Selbstlosigkeit? Na?“


„Passt nicht unbedingt zusammen, was? Aber warte mal. Meinst Du das mit Wandlung?“


„So ist es. Wenn wir schon für diesen ganzen großen zusammengehörigen Prozess einen einzigen Begriff wählen, den wir ‚Liebe‘ nennen, und es handelt sich um einen immerwährenden Prozess, denn Liebe muss jeden Tag neu erblühen; so wird zwangsläufig im Laufe der Zeit aus Egoismus Selbstlosigkeit. Das heißt aber nicht, dass man aufhört, sich selbst zu lieben oder zu achten, sondern lediglich, sich in der Hierarchie unter dem Partner einzustufen. Verstehst Du? Zuoberst Gott, dann die Liebste, dann Du selbst als Liebender. Wenn Du dazu bereit bist, dann hast Du das Himmelreich erklommen.“


Stille setzt ein. Die Summe der im Raum stehenden Worte muss wirken. Ich bin zufrieden, greife zum Telefonhörer und rufe ganz selbstlos einen Freund an: „Hallo Ansgar“, begrüße ich ihn, „wenn ich auch für Samstag geplant habe, mich in der Stadt neu einzukleiden…, das kann ich ebenso eine Woche später erledigen. Ich melde mich natürlich gern zum Helfen beim Dachdecken an. Wann soll ich bei Dir sein?“


Schmunzelnd rede ich mir zu: Man muss sich manchmal neu motivieren, einer Rückentwicklung entgegenwirken, sozusagen, warum nicht mithilfe von Worten Tolstois?


„Wenn ich das so recht überdenke“, treibt Egon das Gespräch von neuem an, „so habe ich dies, was Du mir soeben erklären wolltest, doch einleitend im Großen und Ganzen genau so dargestellt. Falls Du Dich erinnerst: Ich sagte, dass die Äußerung der Schwägerin sich immer nur auf einen Lebensabschnitt bezogen als Wahrheit erweisen kann, und dass Anna dies wahrscheinlich begriffen hat.“


„Was Du  vermutet hast, ist doch erheblich verschieden von dem, was ich denke. Du willst Dich rausreden…“


„Aber…“


„Du musst nicht empört sein. Hör zu: Ist es nicht so, dass Du konträr zu mir davon ausgegangen bist, dass diese edle Liebe am Anfang steht? Außerdem hört sich das Wort Lebensabschnitt so endlich an, so… so mitten drin, verstehst Du?“


Egon schweigt. Ich denke, er schüttelt den Kopf.


„Wenn ich vom Himmelreich sprach“, fahre ich fort, „dann spreche ich auch von dem Endgültigen. Wenn Liebe, wie ich sie jetzt verstehe, entstanden ist, dann wird sie nicht mehr sterben. Sie bleibt bestehen. Sicher, sie kann sich in eine andere Richtung entwickeln, kann ihr Wachstum einstellen…“


„Wachstum? Ah, ich verstehe jetzt.“ Egon gluckst: „Zu Beginn ist ein Keim. Irgendwann wird daraus eine blühende Blume… aber…, eine Blume verblüht. Was sagst Du dazu?“


„Stimmt! Das Menschenleben aber ebenso.“


„Aha.“


„Jedenfalls wollte ich sagen, dass das Gefühl der Liebe alles überdauert … bis in den Tod … heißt es vor dem Traualtar. Alles andere ist keine Liebe.“


„Das kann doch nicht sein. Was fällt Dir denn ein, hier alles in Frage zu stellen? Was sollen die vielen frisch Verliebten denken, wenn sie das hören?“


„Oh, sei unbesorgt, mein Freund, es steht nicht in meiner Absicht, diese Botschaft in die Welt zu tragen. Überhaupt will ich niemandem die Lust am Verliebt sein nehmen. War das wohl Konfuzius, der gesagt hat, dass jede Reise mit dem ersten Schritt beginnt? Wer das auch immer behauptet hat, der spricht etwas ganz logisches aus. Wie wenig die Liebe der Logik unterliegt, so ist sie dennoch eine nicht endende Reise, die mit jedem Schritt dazu lernt. Der Weg kann bisweilen sehr uneben, beschwerlich, auch morastig sein, dafür ist er gut ausgeschildert.“


Ich nehme ein Telefonat an, vereinbare für den nächsten Tag einen Kundentermin und mache Notizen für die Vorbereitung. Das nimmt Egon zum Anlass, auf meine Ausführungen zu erwidern:


„Hör mal, das ist doch alles Mist, was Du da verzapfst? Wie viele Paare, die 20 Jahre und länger zusammen gelebt haben und sich dann scheiden lassen. Diesen Entschluss fassen die doch nicht, wenn sie sich noch lieben, wie Du behauptest. Was ist mit den Menschen, die sich nach einer Trennung erneut verlieben. Willst Du diesen Leuten allen Ernstes unterstellen, dass sie den ehemaligen Partner noch lieben? Das kann doch nicht Deine Absicht sein.“


Oh, habe ich mich etwa verstrickt? Ich überlege, komme aber zu dem Schluss:


„Wenn das Liebe war, so hört sie nicht mit dem Ende einer Beziehung auf. Im Herzen eines Menschen kann für viele Platz sein. Denke an die Hierarchie. Und im Übrigen: Wenn Du es genau wissen willst, so kann die Herbeiführung einer Trennung erstens die Rückkehr zum Egoismus, zweitens aber auch selbstloses Handeln sein. Ganz Recht: Selbstlos. Mensch, Egon, überlege doch mal. Du hast in einer Beziehung in der Regel zwei Menschen.“


„Stimmt soweit.“


„Ja. Man weiß, dass Männer und Frauen unterschiedlich ticken. Frauen reden über Stricken oder Kochen nur mit Frauen. Männer über Autos und Fußball nur mit Männern. Es gibt versaute Witze für Frauen und solche für Männer. Selbst heute, da Frauen weitestgehend emanzipiert sind, ist das nicht anders, weil da immer noch ein Chromosom uns voneinander trennt. Aber gerade deshalb suchen wir uns auch. Der Unterschied zwischen den Geschlechtern ist keineswegs das einzige Problem. Es gibt noch ein anderes in einer Liebesbeziehung, und darauf will ich hinaus. Für den einen Partner entwickelt sich die Liebe eventuell zur Selbstlosigkeit, während der andere sich ein Stück Egoismus bewahrt. Und glaube mir, wenn ich folgere, dass solche Konstellationen nicht die schlechtesten sind. Die komplizierteste Zusammensetzung ist die der gegenseitig Selbstlosen. Das will ich an einem Beispiel anschaulich machen. Folge mal dieses imaginären Gespräches zwischen Mann und Frau: Was möchtest Du heute am liebsten essen, fragt die Frau, worauf der Mann antwortet: Ach Schatz, ich möchte am liebsten das, was Du gern essen möchtest. Die Frau daraufhin: Nein, nein, kommt gar nicht in Frage: Sag mir, was Du gern hättest. Der Mann: Immer soll ich das entscheiden. Du isst doch gern Tagliatelle mit Lachs. Mach das doch. Ist Dir das Recht? Nun die Frau: Aber  was wäre denn Dir am liebsten? …


Und so geht das weiter, Egon. Das ist anstrengend und endet, eh man sich‘s versieht, im Streit, obwohl doch beide Seiten lediglich Rücksicht auf Ihren Liebsten nehmen wollten. Ist das nicht paradox? Ich wage zu behaupten, dass sich bei diesem Benehmen der Egoismus in die Selbstlosigkeit eingeschlichen hat, wie ein Virus. Da weiß man doch gar nicht mehr, was man denken soll, oder?


Nun stell Dir vor, das geht Tag für Tag so. Wie lange kann der Mensch das aushalten? In solchen Fällen kann eine Trennung durchaus auch mal aus edlen Motiven beschlossen werden.“


„Verstehe, wenn das auch nicht einzusehen ist.“


„Nun, die Liebe ist, wie gesagt, oftmals unbequem und mit Leiden verknüpft. Wenn man es aber positiv sehen will, so macht das gerade den Reiz aus.“


„Pah! Was soll denn dass dann für ein Reiz sein?“


„Du vergisst, dass ein Reiz, ein Impuls etwas Unkontrollierbares ist. Etwas Höheres, was wir nicht mit Logik erklären können.“


Eine lange Zeit der Funkstille tritt ein. Erst auf dem Heimweg steigt der alte Egon erneut in das Thema ein, und ich denke bei mir, dass doch wohl er derjenige ist, der keine Ruhe gibt, ehe alles geklärt ist:


„Dieser Egoismus…“


„Ja, Egon?“


„Dieser Egoismus und die angesprochene Selbstlosigkeit scheinen mir nun doch zwei Kernpunkte zu sein. Ich habe in der Zwischenzeit lange über den Satz der Schwägerin in Tolstois Werk nachgedacht. Mit der Zeit hat er mich mehr und mehr zerrissen. Jetzt aber ist ein völlig neuer Gedankenansatz aufgekeimt:


Falls ich jemanden liebe, wie ich ihn haben will, dann liebe ich doch mich.“


„Wogegen nichts spricht, mein Lieber, wogegen gar nichts spricht. Aber gut, fahre fort.“


„Falls ich jemanden liebe, aufgrund seiner Existenz, aufgrund seines Verhaltens, dann stimmt der Charakter der Person im günstigsten Fall mit meinen Wunschvorstellungen überein, falls aber nicht, dann beweise ich meine Selbstlosigkeit. Egoismus heißt, sich selbst lieben. Selbstlos handeln dagegen, andere zu lieben.“


„Im Prinzip schon … und doch wieder nicht.“ Ich streiche eine Strähne aus meiner Stirn, lege den Zeigefinger auf die Lippen, bis mir alles klar erscheint und beginne zu sprechen, vor einer roten Ampel stehend und mich darüber wundernd, dass der Fahrer im Fahrzeug neben mir, der mich anschaut, überhaupt nichts dabei hat, dass sich meine Lippen bewegen. Vor der Erfindung der Mobiltelefone hätte er mir vielleicht den Vogel gezeigt:


„Wie ich das sehe, bedeutet Liebe, dass der geliebte Mensch immer so ist, wie ich ihn haben will.“


„He? Rede nicht wirr.“


„Ist nicht einfach, das zu verstehen, ich gebe es zu. Sieh, wenn ich Achtung vor mir selbst habe, und dazu gehört auch Eigenliebe, dann kann ich mir nicht eingestehen, wider meine eigenen Interessen zu handeln. Richtig? Ergo: Ich verliebe mich in Jemand … im reinsten Sinn, ja? … ohne wenn und aber … weil dieser Jemand genau der ist, der er ist. So. Ich bin bereit, sich zukünftig einstellende Charakter- und Verhaltensänderungen nicht nur gut zu heißen, sondern sie sogar zu begrüßen. Genauso macht mich aber auch kontinuierlicher Gleichstand zufrieden. Ich wünsche uneingeschränkt die Freiheit meines Partners. Das ist nicht nur mein Wunsch, das will ich so haben.“


„Ah, verstehe. Das willst Du so haben. Ich transponiere: Wie Du ihn haben willst.“


„Um auf die Worte der Schwägerin zurück zu kommen. Genau.“


„Wenn wir also von reinster Liebe sprechen, dann gilt sie in erster Liebe der Freiheit?“


„Deine Frage erscheint mir sehr interessant, Egon. Verliebe ich mich, um Freiheit zu erlangen? Jedoch setzte ich mich noch eben für die Freiheit des Partners ein, nicht wahr?“


„Vielleicht benötige ich ihn als Werkzeug?“


„Den Partner? Das hört sich ja grauselig an“, entrüste ich mich, bis ein Schütteln mich durchbebt. Der Feierabendverkehr wird dichter. Als ich mit meinem Wagen am Ende einer Schlange zum stehen komme, finde ich zu meiner Ruhe zurück:


„Ist die Frage also, ob ich durch Liebe Freiheit erlange?“


„Ja, ist bestimmt nicht abwegig gefragt, aber, ist der Gewinn der Freiheit auch von vornherein das eigentliche Ziel dieser ganzen Aktivität?“


„Oh, Egon, ich glaube, ich bin auf dem besten Weg, dem Wahnsinn zu verfallen. Weißt Du eigentlich, dass wir zwei die wahrscheinlich größten Spinner auf diesem Planeten sind?“


„Macht doch nichts, Maestro. Wir sind doch unter uns.“ Egon stutzt. Sein eigener Kommentar stört ihn: „Wieso denn eigentlich Spinner? Wir philosophieren, wir forschen, entdecken. Mag sein, dass all dies dem spinnen recht nahe kommt. Gut! Sagen wir also, wir sind Spinner, dann gebe ich zu bedenken: Was wäre unsere Welt ohne Spinner? He?“


„Ist ja gut. Lass ab von mir, ich will nicht länger darüber nachdenken.“


„Wie, Du willst die Sache nicht ausdiskutieren? Mein lieber Mann, das geht so nicht.“


Meine freie Hand fährt an die Stirn. Der Schweiß, den ich wegwische, ist kalt: „Nun gut“, gebe ich mich geschlagen, „wenn es sein muss. Du weißt doch noch gar nicht, was mich so fertig macht. Hier stellt sich nämlich auf jede Frage die nächste. Wenn also Liebe nur ein Werkzeug zum Erreichen der Freiheit ist, ja? wenn das mit der Freiheit, die Du erreichen zu können glaubst, dann aber nur eine Illusion ist, was dann? Ist dieses ganze Liebesgetue etwa auch nur Illusion?“


„Liebesgetue? Das … das … ist …“.


Ah, kalt erwischt? Jetzt habe ich meinen Freund wohl aus der Bahn gebracht. Das plötzliche Schweigen ist so schwer, wie das Auto, das von 140 Pferdestärken angetrieben wird. Endlich kann ich wieder Gas geben und lasse mich dazu verleiten, das Fenster herunter zu fahren, um frischer, befreiender Luft Eintritt in den Innenraum zu gewähren.


„Nein, nein“, höre ich mich im Rauschen des Windes reden, „das mit der Freiheit kann es nicht sein. Vielleicht räumen wir ihrer Rolle in dieser Angelegenheit auch nur zu große Bedeutung ein. Ich denke zwar, dass Handlungen, die aus Liebe begangen werden, uns befreien. Ist es nicht so, Egon, dass ich mich gut fühle, wenn ich jemandem geholfen habe? Mir geht das so.“


„Ja, das kann ich bestätigen.“


„Irgendwer, kein bekannter Mensch, kein Prominenter, nein, jemand ganz normales, ein mir bekannter Mensch, obwohl mir nun nicht einfallen will, wer es gewesen ist, der hat doch in einer Gesprächsrunde, befragt nach seiner Auffassung über den Sinn des Lebens, geantwortet: Spaß haben!


Junge, Junge, da waren alle perplex. ‚So einfach ist das?‘, haben sie gedacht und waren beeindruckt, ohne geprüft zu haben, ob das wohl sein kann, dass Spaß haben den ganzen Sinn des Lebens ausmacht. Sie waren fasziniert und bewunderten meinen Bekannten, denn er hatte das Leben durch zwei Wörter so einfach gemacht, nach denen sich sämtliche Anwesenden gern und sogleich richten wollten. Egon, Spaß haben, das ist uns doch der angenehmste Wunsch.“


„Ja, schon, aber ich begreife nicht, was das mit unserem Thema zu tun hat.“


„Ich kann Transparenz in meinen Gedanken bringen: Falls der Sinn des Lebens darin besteht, dass wir Spaß haben, dann ist Liebe doch wohl nicht unsere Erfüllung allein, vielmehr ist sie untergeordnet. Ist Liebe ein machtvolles Mittel, um Spaß zu haben? Hat sie eventuell einen nicht unerheblichen Anteil daran, uns unser Leben sinnvoll erscheinen zu lassen. Hilft sie uns  dabei, Frieden zu finden?


„Noch so ein kolossaler Begriff: Frieden.“


„In der Tat, Egon. Da wären ihrer bereits drei: Liebe, Freiheit, Frieden.“


„Was ist mit Toleranz? Liebe schenkt dem Partner, dem Mitmenschen, die Möglichkeit, anders sein zu dürfen. Das ist Toleranz.“


„Womit wir wieder bei Tolstoi wären.“


„Ja, und noch etwas: Was sagst Du zu dem Begriff Glück? Du kennst die Aussage ‚Ich könnte die ganze Welt umarmen‘. Wer glücklich ist, ist der Liebe fähig.“


„Klasse. Diese inzwischen zahlreichen aufgezählten Begriffe unterliegen irgendwie dem Gesetz der Abhängigkeit, wie mir scheinen will. Sie existieren in einer Art Symbiose.“


„Na, das stimmt nicht ganz.“ Egon gibt ein Veto, denkt nach und behauptet später: „Symbiose setzt voraus, dass Existenzen bereits wirken, da sind, doch hier kann auch das Eine aus dem Anderen erst entstehen, findest Du nicht auch?“


„Da stimme ich zu. Das habe ich nicht bedacht. Dennoch können sich Liebe, Freiheit, Frieden, Glück auch gegenseitig am Leben halten.“


„Du hast die Toleranz nicht erwähnt. Mit gutem Grund, denn Toleranz ist vielleicht die wichtigste Charaktereigenschaft, die wir besitzen können. Denk mal darüber nach. Ich bin sicher, dass Du, so wie ich, zum dem Schluss kommen wirst, dass die Toleranz erst alles möglich macht. Und aus dieser Überzeugung heraus asseriere ich nun, dass Liebe keineswegs unsterblich ist, wie Du vorher behauptet hast. Wenn Beziehungen auseinander gehen, dann vollzieht sich wohl eine Wandlung in Respekt oder Achtung … oder beides, jedoch … Liebe? … nein, das ist es nicht mehr … übrigens habe ich diese Meinung anfänglich bereits vertreten, falls Du Dich erinnerst, als ich sagte, dass ich jeden Menschen achten und respektieren kann, der nicht meinem Ideal entspricht, jedoch nicht lieben. Wenn auch die Liebe für Dich das höchste aller Gefühle sein will, was ich mal unterstelle, so darfst Du ihr nicht göttliche Würden angedeihen lassen. Glaube mir: Für Gott sind Frieden und Freiheit mindestens ebenso wichtig. Sag nichts! Sag nicht, dass dann keine echte Liebe bestanden haben kann. Sag es nicht!“


„Oh doch, dabei bleibe ich. Egon, ich will mich aber tolerant geben und Dir Deine eigene Meinung gestatten. Selbst frage ich mich jetzt aber, ob denn Egoismus überhaupt schändlich und zu verabscheuen ist. Mir fällt ein Interview mit einem österreichischen Schauspieler ein, das aber sehr viele Jahre zurück liegt. Der hat zugegeben, oder nein, nicht zugegeben, das klingt so schuldig: Er hat darauf beharrt, dass er ein Egoist sei, und dass das so sein müsse, denn nur, wenn er selbst glücklich wäre, könne seine Familie von seiner guten Laune profitieren, also ebenso glücklich sein.“


„Das kann man sehen, wie man will. Letztendlich denke ich, dass wir auf keinen gemeinsamen Nenner kommen.“ Egon wirkt jetzt nervös und bar jeder Lust, das Gespräch fort zu führen. Wie ich, hat er bemerkt, dass wir daheim sind. Ich habe den Wagen in die Hofeinfahrt gelenkt.  Zeit, sich auszuruhen. Es überrascht mich nicht, als er vorschlägt: 


„Bist Du einverstanden, wenn ich nun behaupte, dass wir ausreichend auseinandergesetzt haben, dass das Gefühl der Liebe mysteriös ist und bleiben wird, dass es sich jeder Bereitschaft zu einer endgültigen Definition entzieht. Das wir keine Lösung in Bezug auf unser Anliegen gefunden haben und dennoch glücklich sein können?“


Für einen Augenblick will ich aufbegehren und sage:


„Kann auch sein, dass sie viele Definitionen hat. Jeder Mensch hat seine eigene …“


Egon seufzt: „In Ordnung. Aber dann soll sich auch jeder Mensch für sich allein damit auseinandersetzen.“


„So, wie Tolstoi das getan hat“, bemerke ich und ärgere mich nur kurz darüber, dass Egon wieder einmal das letzte Wort hat:


„Lassen wir das einfach so stehen. Amen.“

 


27.03.2010

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Was gesagt hätte werden sollen, aber unausgesprochen blieb


So manches Wort bleibt ungesagt, weil es als Folge einer Provokation selbst eine solche werden würde nach dem Motto: Mit gleicher Münze heimzahlen. Stärke beweist der Mensch, indem er ruhig mit derben Worten, Vorwürfen und sogar Beleidigungen umgeht. Er bleibt bei der Sache. Natürlich wird er kommentieren, doch sagt er nicht alles, nämlich nicht das, was er fühlt, obwohl eben dies die menschliche Reaktion bedeuten würde. Auf der einen Seite ist es manchmal richtig, seinen Ärger zu schlucken. Die Seele jedoch leidet. Was ist mit ihr?


Mir wurde von der Buchhaltung die offene und seit zwei Wochen fällige Rechnung eines Kunden mit der Bitte vorgelegt, betreffenden Herrn Asshole anzurufen und Klärung zu erwirken. Es klingelte etwa vier Mal, dann meldete er sich am anderen Ende:


„Asshole“, sagte er.


„Guten Tag, Herr Asshole“, holte ich aus, „ich rufe Sie wegen der offenen Rechnung für das Gerät an. Kann es sein, dass Sie übersehen haben, dass bei Geräten ein abweichendes Zahlungsziel gilt?“


„Ihr kriegt schon Euer Geld“, reagierte er in alarmierendem, patzigem Ton, „normalerweise ruft man bei uns wegen so etwas nicht an. Wir haben die Maschine erst letzte Woche bekommen…“ (Anmerkung: Es waren bereits zwei Wochen vergangen) „Ihr kriegt Euer Geld. Die nächste Maschine kaufen wir sowieso woanders. Und ich weiß wohl, warum wir so wenig Material bei Euch kaufen.“


„So? Warum denn“, erkundigte ich mich.


„Wegen solcher Sachen, weil ihr sofort anruft. Das kotzt mich an.“


„Nun seien Sie doch nicht gleich…“


„Wenn Ihr mich nicht mehr als Kunden haben wollt, dann müsst Ihr es nur sagen. Aber, bitte, Ihr kriegt Euer Geld.“


„Herr Asshole, deshalb rufe ich an. Das wollte ich nur absichern. Das ist doch eine Antwort. Dann ist es gut.“


„Bei uns wird nicht wegen so etwas angerufen“, stichelte er unbeirrt weiter, „ich habe das schon mal der Frau… der…“


„Köpke?“


„Nein!“


„Der Chefin?“


„Ja, genau, …gesagt. Die wollte sich eine Notiz auf unserer Kundenkarte machen. Jetzt kommt schon wieder ein Anruf.“


„Tut mir leid, das habe ich nicht gewusst.“


Damit endete das Telefonat. Nur wenige Minuten später wurde mir ein Gespräch durchgestellt. Es war wieder Herr Asshole.


„Hören Sie mal“, polterte er, „Ihr müsst auch mal Eure Kontoauszüge durchsehen, bevor Ihr anruft. Meine Frau hat den Betrag gestern überwiesen. Nicht immer gleich anrufen.“


„Gestern, sagen Sie? Dann war es wohl noch nicht auf unserem Konto gutgeschrieben.“


„Ich habe doch wohl immer meine Rechnungen bezahlt. Ist das schon einmal vorgekommen, dass ich nicht bezahlt habe? Noch nie.“


„Nein, Herr Asshole, das habe ich auch gar nicht  gesagt. Ich wollte lediglich darauf hinweisen, dass wir bei Geräten ein anderes Zahlungsziel haben. Nichts anderes.“


„Wenn Ihr mich nicht mehr als Kunden haben wollt, dann müsst Ihr das nur sagen.“


„Herr Asshole, das möchte ich ausdrücklich nicht sagen. Wir möchten Ihnen weiterhin gern Materialien verkaufen.“


„Ich kaufe sowieso nur bei Euch wegen dem Hannes. Der ist ein lieber Kerl, und immer dicht dabei. Ich kaufe nur wegen dem Hannes bei Euch. Sonst würde ich nichts kaufen. Garnichts. Nur wegen dem.“


„Nun gut, dann soll es so sein“, antwortete ich unverändert ruhig, doch innerlich angegriffen. Ohne ausgedehnte Grüße brachen wir das Gespräch ab.


Mir war klar, weil unlängst zugetragen, dass Herr Asshole nicht zu meiner Fangemeinde zählt. Durch seine letzten Äußerungen hat er nun auch den Kollegen, der mich darüber in Kenntnis gesetzt hatte, für unwürdig erklärt, mit ihm Geschäfte zu machen. Ebenso aber auch alle, die tagtäglich gewissenhaft ihre Arbeit verrichten und sich nichts zuschulden haben kommen lassen. Alle außer Hannes, unseren Juniorchef. Wahrscheinlich aber auch nur, weil der ihm in der Not am einfachsten, schnellsten und kostengünstigsten helfen kann. Es gibt schlicht keine Alternative.


Nun ist es nicht unrecht, wenn jemand seine Bedürfnisse jeweils dort abdeckt, wo es für ihn am günstigsten ist, für eine erhaltene Portion Hafer dann aber auszutreten, wie ein störrischer Esel bedeutet nichts anderes, als dass sich jener – in diesem Fall Herr Asshole – selbst zu einem solchen Grautier degradiert.


Was hätte ich aber erwidern können, und tat es doch nicht? Vielleicht folgendes: Herr Asshole, Sie haben offenbar ein Talent dafür, ein selbst begangenes Unrecht so auszulegen, dass sich der Betrogene als Sünder fühlt. Wie ist es sonst zu erklären, dass ich mich gerade in diesem Moment so fühle, wie ein Verständnisloser, wie ein Geldhai, ja, wie tadelwürdiger Abschaum? Hat nicht im Kaufvertrag gestanden, dass wir eine Maschine zu liefern haben, dass sie einwandfrei sein muss, ohne Mängel? Ja, das hat es. Haben wir uns daran gehalten? Ja, das haben wir. Hat nicht im Kaufvertrag gestanden, dass im Anschluss sofort nach Erhalt die Rechnung bezahlt werden muss? Moment, ich sehe nach. Ja, das steht dort schwarz auf weiß. Haben Sie sich daran gehalten? Nein, das haben Sie nicht. Haben wir, habe ich Ihnen daraufhin das Leben zur Hölle gemacht? Ich denke nicht. Zwei Wochen lang haben wir uns nicht gemeldet. Und heute!... Und heute? Habe ich gefordert? Ich habe erinnert ohne Arroganz. Im Gegensatz zu Ihnen mit freundlichen Worten.


Ich habe bei der Bundeswehr gedient, oh, dass liegt lange zurück. In der Offiziersmesse habe ich ausgeholfen. Brötchen geschmiert, Kaffee gekocht, serviert habe ich. Da gab es ein paar Unteroffiziere, die uns beim Apell, im Gelände, während der Manöver schikaniert haben. Ich mochte sie nicht sonderlich gern leiden. Zunächst schon … als ich sie noch nicht kannte. Doch wer getreten wird, Herr Asshole, der leidet. Ein Leid zu ertragen ist schwer. Wir konnten uns damals nicht wehren. Wir mussten Befehlen gehorchen, sonst ging es in den Bau. Das wussten diese jungen Kerle, die kaum älter waren, als wir selbst. Sie haben das gern getan … uns schikanieren, meine ich. Ich denke, dass sie unsere von Tränen durchweichte Seele, die so schwer war, dass sie uns immer weiter runterzog, gesehen haben. Sie waren diejenigen, die uns Nichtschwimmer ins Wasser schubsten. Sie waren der Betonklotz, der an unseren Beinen hing. Herr Asshole, wissen Sie, wer unser Rettungsschwimmer war?


Lassen Sie mich ausreden, Herr Asshole. Ich will es Ihnen unbedingt beichten. Ja, beichten will ich es, obwohl ich selbst das nie übers Herz gebracht habe. Ich meine das, was Kameraden getan haben. Ich habe nur die Klappe gehalten. Nicht einmal gefreut habe ich mich, nur geekelt, und die Unteroffiziere taten mir sogar etwas leid. Aber ich konnte nur schweigen, nur zusehen; wie erstarrt war ich.


Als eines Tages die Unteroffiziere zum Frühstück ihr Mettbrötchen und den Kaffee bestellten, da hatte Kamerad Klö…, ach nein, den Namen darf ich nicht preisgeben, das käme einer späten Denunziation gleich, und das wäre nicht Recht … dann müsste ich ebenso die Namen der Unteroffiziere nennen. Der Kamerad hatte also eine schändliche Idee. Jedoch bereitete er mich nicht vor, er rotzte einfach hinein in die köstlich duftende mit etwas Milch angereicherte dampfende Flüssigkeit. Gleich darauf in die zweite Tasse. Ein befriedigtes Grinsen lag auf seinem Gesicht, als er in gebückter Haltung seinen Kopf seitlich zu mir drehte und unsere Blicke sich trafen. Er nahm einen Löffel und rührte kräftig um, bis äußerlich alle Spuren verwischt waren. Ohne Zögern packte er das Tablett und servierte, wie er es immer tat. In der Folge mag er köstliche Minuten verlebt haben, als er die Unteroffiziere, die scherzend mit anderen Dienstgraden an ihrem Tisch beisammen saßen, ihren Kaffee schlürfen sah. Und augenblicklich wurde der Stein, der an unserem Fuß hing, so leicht, dass wir mühelos an die Oberfläche kamen.


Vor mir brauchen Sie keine Angst haben, Herr Asshole. Wie ich schon sagte, ich bringe das nicht übers Herz. Lieber gehe ich unter, als mit gleicher Münze heim zu zahlen. Das bringe ich nicht übers Herz. Ich wünsche Ihnen, dass Sie niemals meinem ehemaligen Kameraden über den Weg laufen, dessen Namen Sie ja nicht kennen. Es könnte jeder sein.


Vielleicht habe ich Ihnen aber auch einen Gefallen getan, falls mein Bekenntnis Sie zum Umdenken veranlassen könnte.


Ach, eins noch, Herr Asshole. Wissen Sie eigentlich, wie Ihr Name im Englischen ausgesprochen wird? … Und was er bedeutet? Ach nein, das mag ich Ihnen nicht verraten. Das bringe ich nicht übers Herz.



24.05.2010

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Von Ferkeln, Hühnern, Puten und Kindern

(Es gibt Dinge, über die sich vor lauter Frust nur noch lachen lässt)


In den Schlagzeilen steht, dass Ferkel ohne Narkose kastriert worden sind und weiterhin werden - bis 2015? - wenn ich richtig informiert bin. Dann soll es verboten sein, weil die Ferkel das Kastrieren ohne Betäubung wohl nicht als angenehm empfinden … glauben nun jedenfalls vereinzelt Politiker erkannt zu haben. Aber bis 2015 müssen die Ferkel noch durchhalten. Ja, denkt Euch, das dauert schließlich, bis sich das herumgesprochen hat. Ich könnte mir vorstellen, dass viele Bauern gar nicht lesen können und deshalb keine Zeitung bestellt haben (ich weiß auch nicht, ob es auf dem Land flächendeckend Schulen gibt) … und Internet gibt es da bestimmt nicht. Da ist doch keine Verbindung. Vermute ich. Also muss einer von der EU rum fahren und die Kunde persönlich überbringen. Was das wieder einen Sprit kostet. Bei den derzeitigen Preisen wird das ins Gewicht schlagen. Ich befürchte, es werden sich Leute finden, die sich darüber aufregen.


Egal. Wenn ich das richtig verstanden habe, fängt der von der EU jedenfalls in Deutschland an. In der gesamten EU will er dann bis 2018 jeden Bauern informiert haben.


Natürlich tun jetzt alle empört: „Das ist Tierquälerei“, rufen sie. Ist doch klar. Aber: Hat sich denn schon jemals ein Mann ohne Narkose kastrieren lassen? Nur weil die Ferkel dabei grunzen, soll das bedeuten: Das tut weh? Wie wollen wir das wissen? Am Ende ist das noch was Schönes, wer weiß? Wie ein Orgasmus oder so. Und die Frauen können schließlich gar nicht mitreden.


Ja, und den Hühnern und Puten werden die Schnäbel abgehackt. Damit soll auch Schluss sein. Aber was sollen die Geflügelzüchter denn machen. Das Geflügel pickt sich doch sonst gegenseitig die Federn aus … in seinen engen Käfigen. Manchmal fressen sie sich sogar auf. Grässlich. Das ist ja Kannibalismus. Und außerdem: Wo kämen wir denn hin, wenn die sich selbst fressen, wo sie doch für unseren Speiseplan bestimmt sind.


Auf  jeden Fall muss man sich ernsthaft fragen, was  für die Hühner und Puten das geringere Übel ist. Ich meine, wer möchte schon den ganzen Tag nackt herumlaufen? Sie etwa?


Haha…, herumlaufen ist gut. Dafür haben die ja nicht einmal Platz. Und dann ist es immer zugig in den Käfigen, die sind ja offen, und es kann doch auch nicht dauernd darauf geachtet werden, dass die Stalltüren geschlossen sind. Und  dann wird dem Federvieh, das nun federlos ist,  mangels Bewegung noch eher kalt und dann erkälten sich die Tiere. Das müssen sich die Tierliebhaber aber auch einmal überlegen, bevor sie kritisieren. Das ist doch dann wohl auch nicht tiergerecht.


Na, aber das mit den Tieren ist ja schon wieder Schnee von gestern. Heute sind die Kinder dran. Nun hat man tatsächlich festgestellt, dass Kinder doch keine Maschinen sind und das auch gesetzlich festgeschrieben. Wenn Kinder lärmen, ist das für die Ohren nicht so schädlich wie ein Presslufthammer … sagen die Politiker. Damit sollen sich die Leute, die immer rum nörgeln, abfinden. Die KiTa gehört ab sofort wieder ins Wohngebiet. Das ist für Eltern auch viel besser, weil sie dann nicht mehr so weit fahren müssen, um die Kleinen abzusetzen und wieder einzusammeln, was bei den heutigen Spritpreisen ins Gewicht schlägt und da werden nun einige wieder begeistert sein von wegen Umwelt und so. Ist also dann auch wieder so eine Art Ausgleich für den von der EU, der ja in der nächsten Zeit einiges zu fahren hat.


Und unter dem Strich ist dann doch alles wieder in Ordnung, stimmt's?



19.02.2011

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Das einfache Leben


Vor nicht allzu langer Zeit habe ich behauptet, dass das Leben einfach ist und immer geradeaus geht. Ich fürchte nun, dass ich etwas voreilig und spontan war.


Mag sein, dass es einen ideal verlaufenden Weg gibt, der geradeaus führt. Doch, liebe Leserin, lieber Leser, wer geht den schon?


Dennoch bin ich von der Richtigkeit meines Gedanken überzeugt; nur habe ich ihn falsch ausgedrückt, oder, wenn man es so möchte, nicht näher erklärt.


In der Tat ist das Leben einfach, wenngleich auch nicht immer nur einfach zu ertragen. Es ist insofern einfach, dass es immer nur voran geht und niemals zurück, egal, welche Richtung wir einschlagen. Vielleicht gehören Fünfzig Jahre Lebenserfahrung dazu, um begreifen zu können: Jedem bleibt für sich selbst nur die einzige Möglichkeit, das Leben, sein Leben, anzunehmen, wie es ist, mit allen Irrwegen, die beschritten worden sind, mit allen ausgelassenen Chancen und in der tröstenden Erkenntnis, dass Gott oft genug auch die Richtung auf den rechten Weg zurück gewiesen hat.


Für Jeden von uns offenbaren sich bei genauer Betrachtung doch sicher eine ganze Reihe von Glücksmomenten, die sich den Miseren gegenbuchen lassen. Wer erkannt hat, dass er annehmen muss und die Disziplin besitzt, es auch zu tun, der wird endlich aufhören, sich selbst für allzu wichtig zu nehmen und findet seinen Frieden.


Wer will mir erklären können, dass ein Leben dann vollkommen ist, wenn es materiellen Reichtum eingebracht hat, oder etwa eine glanzvolle Karriere? Ich bleibe meiner Ansicht treu: Das Leben ist einfach. Ich muss die Weisheit erlangen, mich als kleinen Menschen im weiten All der Zeit zu akzeptieren. Dann habe ich alles erreicht, was erreichbar ist.



24.05.2012 (veröffentlicht: 30.01.2013)

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Ist die Gegenwart alles, was uns gehört?


  Als ich heute eine junge Frau fragte, ob sie wüsste, was im Jahr 1953 an eben diesem 17. Juni passiert ist, antwortete sie verunsichert mit Nein. Ich erzählte ihr daraufhin von den russischen Panzern, die in Berlin Menschen überrollt hatten, nur weil diese sich für Demokratie und Freiheit einsetzten.

 

Die junge Frau hörte aufmerksam zu. Sie konnte sich nicht erinnern, ob das Thema in der Schule behandelt worden war. Ihr war auch nicht bewusst, dass der 17. Juni bis zum Jahr 1989 in unserem Land ein gesetzlicher Gedenk-Feiertag war, der dann durch den „Tag der deutschen Einheit“ am 3. Oktober ersetzt worden ist. (Schrecklich übrigens, dass wir auch Trauer- und Gedenktage offiziell als Feiertage führen. Wir sollten wohl lieber von „gesetzlichen Freitagen“ sprechen.)

 

Wenn ich auch nicht entsetzt war über die Unwissenheit der jungen Frau, so war ich dennoch unglücklich über die befürchtete Bestätigung, denn das Motiv für meine Frage barg bereits die Vermutung in sich, dass ich genau diese Antwort der Ahnungslosigkeit erhalten würde.

 

Nun habe ich gerade heute gelesen: Die Gegenwart ist die einzige Zeit, die uns wirklich gehört.

Wenn dem wirklich so ist, dann sind wir unbedeutender, als ich bisher annahm, denn nach meiner Einschätzung ist die Gegenwart nicht mehr als der Wimpernschlag, der die Vergangenheit von der Zukunft trennt.

 

Das gelesene Zitat stammt indes von Blaise Pascal, einem französischen Religionsphilosophen, der im 17. Jahrhundert gelebt hat. Seine Worte könnten ebenso von einem jungen Genossen aus dieser Zeit stammen, denn meine Beobachtungen lassen durchaus den Schluss zu, dass ein großer Teil der Generation der heute Fünfzehn- bis Dreißigjährigen sehr oberflächlich desinteressiert und orientierungslos in erster Linie auf sich selbst bezogen auftritt. Dieser Erkenntnis des Blaise Pascal zufolge könnte alles plausibel werden: Warum also sollten sich diese neuen Menschen um die Vergangenheit scheren, eine Zeit, die ihnen nicht gehört? Und ich frage weiter (weil das allmählich als salonfähig zu gelten scheint): Warum sollten sie ihre Rechnungen bezahlen für eine Leistung, die in der Vergangenheit erbracht wurde, in einer Zeit also, die sie nichts mehr angeht? Und da ihnen die Zukunft ebenso wenig gehört, erachten sie als überflüssig, sich jetzt schon Gedanken über Konsequenzen zu machen. Ich könnte sogar weiter gehen, wenn ich behauptete, dass sie nicht einmal „erachten“, sondern schlichtweg alles ignorieren, was sich außerhalb der Gegenwart abspielt.

 

Wichtig ist ihnen nur, was ihnen gehört. Darauf sind sie fokussiert. Ihnen gehört, um ein Beispiel zu nennen, das Smartphone, das sie in der Hand halten. Ob es bezahlt ist, oder bezahlt werden muss, spielt für sie keine Rolle. Ich frage mich, ob sie vielleicht mit ihrer Einstellung gar nicht so fahrlässig gegenüber der Gesellschaft sind, wenn sogar der große Dichter Goethe einst verlauten ließ, dass Reichtum im Besitz und nicht im Eigentum liegt. Ich denke aber, dass er nicht gemeint hat, dass das Zahlen von Verbindlichkeiten zu vernachlässigen sei.

 

Wenn diese bezeichnete Generation hier ihr Fett weg kriegt, dann möchte ich aber all diejenigen unter ihr, die bereit sind, Verantwortung für sich, für eine Familie, für die Gesellschaft zu übernehmen, von meiner Kritik frei sprechen und loben. Und außerdem treffe ich in meinem Alltag auf Menschen anderer Generationen, die genauso auf Gesellschaftsregeln pfeifen.

 

Zumindest scheint mir ein gehöriger Anteil der jungen Menschen unserer Zeit in einem Neutrum zu leben. Viele können mit unserem System nichts anfangen und verweigern sich schlichtweg. Vermutlich unternehmen sie keinen Schritt zur Veränderung, weil sie nicht wissen, wie ihre neue Welt auszusehen hätte. Die ganze Fatalität ihres Seins zeigt sich darin, dass sie sich in einer elektronischen Zwischenwelt verirrt haben, in der man sich nicht mehr die Hand zur Begrüßung gibt und dabei fühlt, dass man es mit einem Menschen zu tun hat, der aus Fleisch und Blut ist, wie man selbst.

 

In einer Gesellschaft rotten sich Menschen zusammen und entwickeln Dinge fort. Neue Errungenschaften werden geprüft und angenommen, sofern sie Verbesserungen bringen. Wir sehen aber Fortschritt nur noch unter den Aspekten Geschwindigkeit und Profit; und unsere technischen Möglichkeiten ermöglichen inzwischen ein Tempo, für das nach meiner Einschätzung der Mensch nicht ausgelegt ist. Diese Schieflage führt zu Burnout, Boreout, Emotionslosigkeit, Egoismus, verfrühten Herzinfarkten und sozialer Inkompetenz. Es ist nicht so, dass unsere jungen Leute dies nicht wissen. Sie fühlen, dass es so ist, auch wenn sie nicht darüber nachdenken. Nur leider sind gerade sie es, die auf diese ganzen technischen Hilfsmittel vermeintlich nicht mehr verzichten können. Sitzen sie in einem Raum zusammen, dann unterhalten sie sich lieber über soziale Netzwerke als direkt miteinander.

 

Wenn ich lese, dass wieder einmal irgendwo in dieser Welt jemand wild um sich geschossen und unschuldige Menschen getötet hat oder dass ein anderer einen Menschen umgestoßen und ihm dann solange auf den Kopf getreten hat, bis der tot war, dann überkommt mich das kalte Grausen. Woher kommt diese unnatürliche Gefühlslosigkeit? Woher kam sie 1953, als Panzer wehrlose Menschen überrollten? Gehört uns wirklich nur die Gegenwart? Sollten wir so denken? Das würde schließlich bedeuten, dass wir nichts verlieren und nichts gewinnen könnten, denn in dem Moment, da wir etwas gewinnen, hätten wir es bereits wieder verloren. Wir würden jegliche Perspektive verlieren.

 

Ich merke, dass ich nun immer häufiger „wir“ sage, denn neben meiner Kritik an den jungen Leuten steckt  in Wahrheit auch eine an uns älteren, die ihnen das eingebrockt haben. Die Frage ist hier, wer wohl zuerst den Respekt und den Anstand vor wem verloren hat.

 

Nun, die junge Frau wusste also nichts vom 17. Juni 1953 und wird auch inzwischen das Interesse daran wieder verloren haben. Das kann ihr niemand verübeln, aber an gesellschaftliche Regeln sollte sie sich halten, und wenn ihr irgendeine Regel nicht gefällt, dann muss sie sich dafür einsetzen, dass sie auf demokratische Art geändert wird. Wer einfach so seine eigenen Gesetze schafft, der versündigt sich an den Toten des 17. Juni 1953 und ist in seinem Verhalten aufs schärfste zu kritisieren.

 

Diejenigen, die sich hier angesprochen fühlen müssen, stammen aus allen sozialen Schichten und Glaubensgemeinschaften. Vielleicht sind sie einfach machtlos und stehen in Reihe vor den Mühlen unserer gierigen Leistungsgesellschaft an, um sich zermahlen zu lassen. Ob auch Wilhelm Busch in seiner Zeit einst ein ähnliches Bild vor Augen hatte, als er Max und Moritz geschaffen hat, die vermutlich ersten Punker dieser Welt?


 

Die Menschen des 17. Juni 1953 hatten sich nicht verirrt. Sie wussten ganz genau, wie ihre Welt aussehen sollte. Sie wollten Freiheit und sie wollten Demokratie. Eine funktionierende Demokratie erlaubt, die Freiheit des Individuums einzuschränken, ohne ihm das Gefühl zu geben, eingeschränkt zu sein. Bei all der Ignoranz, dem Hass und der Brutalität dieser Tage sollte unser demokratisches Wertesystem dringend auf den Prüfstand.


17.06.2016 

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Jemand, den ich verloren habe


Ralf E. ist bereits am 03. Mai 2016 verstorben. Der Cousin meiner ersten Frau war ein spezieller Mensch. Wie sagte ich zu meiner jetzigen Faru: Ein friedlicher Rebell. In seiner Gegenwart habe ich mich immer ein wenig taxiert gefühlt. Auch ein wenig belächelt, weil ich so früh geheiratet, mich anscheinend mit der Gesellschaft arrangiert habe. Weil ich mich integriert habe. Meine Einschätzung mag Einbildung gewesen sein. Ralf hat niemals verbal etwas in dieser Richtung verlauten lassen.

Ich denke, dass ihm dieses damalige Gesellschaftssystem in den Achtzigern misshagte. So viel ich weiß, hat er sich hier, in seinem Heimatland, niemals in ein normales, spießiges Beschäftigungsverhältnis pressen lassen. Er hat sich vor dem Wehrdienst gedrückt, indem er die Fahnenflucht nach Berlin gesucht hat. Erst während seiner Jahre in Kolumbien, wo er sich eine Existenz aufbaute, fand er den Mut, zu heiraten.

Leider ist die Ehe irgendwann in die Brüche gegangen. Ralf kam nach Deutschland zurück. Nun ist er, der an Leukämie erkrankt war, viel zu früh gestorben.

Manchmal habe ich ihn um seinen Mut zur Freiheit beneidet. Dennoch wollte ich niemals mit ihm tauschen. Die Freiheit ist das höchste Gut für das Individuum, für die Gesellschaft aber ist es die Befähigung, Verantwortung zu übernehmen. Ich habe mich nicht gegen mich entschieden, weil ich meine Erfüllung in der Übernahme von Verantwortung suchte. Vielmehr sah ich mich als Teil der Gesellschaft. Daran hat sich bis auf den heutigen Tag nichts geändert. Ich habe von ihr profitiert, und somit von meinem Tun.

Nun, Ralf war ein prima Mensch. Er liebte den Frieden. Er hat seine Rolle in dieser Welt gespielt. Schade dass sie nun zuende gespielt ist.


11.05.2016 (Veröffentlicht am 15.02.2017)

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Hätte Jesus eine Lebensversicherung gehabt


Wir saßen beim Frühstück. Soeben noch hatte ich mich euphorisch über die Lichtverhältnisse draußen geäußert. Beide schauten wir aus dem Wohnzimmerfenster und waren uns einig, dass der Frühling nicht mehr weit war. Schon zog sich der Himmel zu. Nun denn.

Im Fernsehen verfolgten wir die Bob-Weltmeisterschaft, mehr nebenbei, weil wir viel Sport schauen. Berchtesgaden. Gute Aussichten auf Platz Eins für Francesco Friedrich.

„Hundertausend Euro kostet so ein Bob?“, fragte ich, obwohl ich das wusste, weil ich es in einer Moderation gehört hatte. Aber sogleich schoss ich eine Frage hinterher. Ob so ein Bob wohl Vollkasko versichert sei, wollte ich wissen.

Meine Lieblingsgesellschafterin sah mich forschend an, während ich auf den Bildschirm zeigte, mit der anderen Hand die Teetasse haltend.

„Das weiß ich nicht“, hauchte sie beinah, „denkst Du denn, dass das möglich ist? Kann man einen Bob versichern?“

Ich mutmaßte, dass sich alles versichern ließe und genau genommen doch sogar das Leben. Ich schmunzelte und ergänzte, sofern es sich um eine Kapitallebensversicherung handele, bekäme man noch einiges an Geld dafür ausbezahlt.

„Ich meine, wenn sie abgelaufen ist, bevor du tot bist.“

Diese Ergänzung belustigte meine Lieblingsgesellschafterin nun offenbar. Nun schäkerte sie und wollte bestimmt nicht blasphemisch sein, als sie locker vom Hocker hinterfragte, wie denn bitteschön eine Versicherung verfahren hätte, wäre JESUS lebensversichert gewesen.

Ich lachte. (Da patzte der italienische Bob und sicherte Francesco Friedrich den Sieg.) Eine originelle Frage. Eine diskussionswürdige Vorstellung.

JESUS lebensversichert? Was könnte ihn dazu bewogen haben, sich des Lebens zu versichern. Er war allein?! Wen hätte er damit absichern sollen?

„Du lachst“, sprach meine Lieblingsgesellschafterin, „aber überleg doch einmal. Was wäre, wenn ich beweisen könnte, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Wie würden die Versicherungen reagieren? Würden sie nur noch bei Ablauf, nicht jedoch weiterhin bei, wir müssen wohl sagen, irdischem Tod bezahlen?“

Darüber musste ich nachdenken, gewann etwas Zeit, weil ich herzhaft in mein Käsebrötchen biss und lange kauen musste. Wir sahen uns an. Sie wartete, gab mir Zeit, nickte unentwegt fast unmerklich zum Zeichen ihrer Geduld. Schließlich stellte ich fest, dass viele Menschen an eine neue Existenz nach dem Tod glauben, quasi unter anderem Namen und sogar als aus der Art; als Kuh, als Schwein, als Wurm. Damit sei ein Leben doch wohl abgeschlossen. Da könne sich eine Lebensversicherung nicht herausreden.

„Anders herum, Liebste, wenn das Leben einfach weitergeht…“

„Ja“, ereiferte sich meine Lieblingsgesellschafterin, „wie bei JESUS. Er ist wieder auferstanden von den Toten. Er war wieder JESUS. Er hat seine Leute getroffen. Sie haben ihn erkannt. Und dann ist er als lebendiger Mensch in den Himmel aufgefahren, oder hast Du gehört, dass er vorher gestorben ist?“

„Und da lebt er noch heute sein ewiges Leben“, bestätigte ich, „oh, die Lebensversicherung müsste aber wohl längst abgelaufen sein. Ich weiß überhaupt nicht, an wen eine Lebensversicherungsgesellschaft die Summe auszahlen muss und ob überhaupt, wenn es keine Hinterbliebenen oder als „begünstigt Eingetragene“ gibt. Hier aber hätte sie an den Versicherten auszahlen müssen.“ Ein Grinsen huschte über mein Gesicht, als ich hinzufügte: „Ich habe jedoch noch niemals von einer Bankverbindung im Paradies gehört.“

Beide bemerkten wir, dass unser Gedankenstrang nun zunehmend aus der Bahn geriet und kompliziert wie lächerlich wurde. Indes waren wir sicher, dass in den undurchsichtigen, endlos erscheinenden, verklausulierten Versicherungsbedingungen für jeden Fall eine allem irdischen Recht standhaltende Regelung enthalten sein würde, also auch für den unwahrscheinlichen Fall des unumstößlichen Beweises des ewigen Lebens. In den meisten Fällen hätte die Lebensversicherungsgesellschaft eh nur Vorteile dadurch.

Dennoch brannte uns eine Frage auf der Seele: War er nun rechtlich gesehen tot gewesen, unser Herr JESUS, vorübergehend? Wir grübelten eine Weile darüber nach. JESUS ist am Kreuz gestorben. Damit war die Versicherung in der Pflicht. Dann ist er aber wieder auferstanden. Musste die Versicherung, da es doch in diesem Fall einen Anspruchsberechtigten gab, nämlich ihn selbst, an ihn zahlen? Tod ist Tod, und damit muss geleistet werden. Nicht von Belang sein kann, dass der Tote hinterher wieder in Erscheinung tritt. Damit aber genug.

Wenn der Mensch gerade nichts Besseres zu tun hat, dann diskutiert er bisweilen schon mal über Unsinnigkeiten. Am besten schnell vergessen. Und das alles wegen einer blöden Frage nach Versicherungen für Bobschlitten.

Und eines muss ich unbedingt zurechtrücken. Dieser Text erscheint mir in der Tat etwas gotteslästerlich in der Wahrnehmung von außen. Wenn Jesus so war, wie ich ihn vermittelt bekommen habe, und daran glaube ich, dann war er für mich der bedeutendste Mensch, den die Welt je gesehen hat. Diese „Juxerei“ würde er uns nachsehen.

 

19.02.2017

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Von Klage und Freude zu Weihnachten


Heiligabend um die Mittagszeit. Meine Geliebteste hat vor wenigen Minuten in Scheiben geschnittenen Plätzchenteig in den Backofen geschoben. Das Außergewöhnliche an der Sache ist, dass sie den vorbereiteten Teig im Supermarkt (vermutlich bei ALDI) gekauft hat.

Ehe ich mir dazu eine Meinung bilden konnte (was bei mir einem ebenso anstrengenden wie zugleich automatisierten Zwangsverhalten unterliegt), (und somit hat mir meine Geliebteste eine Anstrengung erspart)… Ich beginne neu: Ehe ich mir dazu eine Meinung bilden konnte, hat sie sich für diese Art des Weihnachtsbackens entschuldigt und ihre Entscheidung für dieses Unterfangen damit begründet, dass sie in diesem Jahr mit so vielen anderen Dingen, die Vorrang hatten, beschäftigt war.

Es gibt aber gar keinen Grund für eine Entschuldigung. Wenigstens zu Weihnachten sollte Jeder die Möglichkeit haben, ein wenig zur Ruhe zu kommen. Und doch sind die meisten unter uns immer wieder so emsig, so gehetzt, ja, geradezu fiebrig mit den Vorbereitungen auf diese so kurzweilige Zeit der Besinnlich- und Gemütlichkeit beschäftigt. Und die meisten dieser Meisten unter uns klagen, weil sie sich dabei so stark erschöpfen müssen.

Ich will nun nicht glauben, dass diese große Anzahl der klagenden Menschen unfähig ist, aus vermeintlichen Fehlern zu lernen. Warum ist davon auszugehen, dass beinahe jeder von Ihnen im nächsten Jahr erneut genauso handeln wird, wenn nicht diese große Energieleistung im tiefsten ihrer Seelen willkommen ist?

Zum Weihnachtsfest besinnen wir uns auf die Menschen, die uns am nächsten stehen, häufig aber durch den vorgegebenen Alltag übers Jahr zu kurz kamen. Offensichtlich haben wir Menschen das Bedürfnis, dieses Defizit regelmäßig auszugleichen und sehen die Weihnachtszeit, während dieser das Volk so gern von Frieden spricht, als guten Zeitpunkt dafür, das zu tun oder es wenigstens zu versuchen.

Eine Analyse unseres Zeitablaufes in der Vorweihnachtszeit wird sehr schnell verraten, dass sich da Vieles um unsere Liebsten dreht und gar nicht so sehr um unsere eigene Person; und diese Erkenntnis schließlich führt mich zu dem Fazit, dass ich mit jedem derzeit an mir vorbeihetzenden Gesellen Jemandem begegnet bin, der sich zu Recht und in großem Maße glücklich schätzen darf, weil er doch einen Menschen hat, der ihm nahesteht und viel bedeutet.

Und die Erschöpftesten unter uns, das sind die Glücklichsten, so will ich mutmaßen, denn sie haben sich einen großen Schatz an ihnen wertvollen Menschen angelegt.

Ich will mich also nicht mehr blenden lassen. Bei allem Verständnis für wehleidige Hinweise auf den Kraftaufwand soll das Bedauern weichen, und zwar der Freude über jede mir geäußerte Klage, die doch nun eine schöne Wahrheit eröffnet: Wer klagt, ist glücklich, weiß es nur manchmal nicht.

Und damit sich daran etwas ändert… also, dass sie nicht wissen, dass sie glücklich sind; deshalb weise ich mit dieser neuen Weisheit darauf hin, die sich auch mir selbst (oder endlich auch mir?)  soeben offenbart und mich angenehm überrascht hat.


(Anmerkung: Mit dieser Predigt hätte ich Pastor werden können)


24.12.2017

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Das Paradoxon, Gegenwart als Zeitraum zu sehen


Einem Arthur Schopenhauer zu widersprechen ist gewagt und, wie soll ich sagen, unziemlich? Zunächst erfüllte mich bei dem Gedanken Furcht, dann trieb er mir ein listiges Lächeln ins Gesicht, als mir nämlich bewusst wurde, dass da nichts zu widersprechen war.

Ich entspannte mich. Seine vor mehr als einhundertfünfzig Jahren aufgestellte These ist trotz meiner bisher so geringen Achtung für die Gegenwart in vollem Umfang richtig.

Dabei, um diesen ersten Absatz zu entschlüsseln, geht es um Arthur Schopenhauers Aussage, die da lautet:


Die Gegenwart allein ist wahr und wirklich: Sie ist die real erfüllte Zeit, und ausschließlich in ihr liegt unser Dasein.


Was aber ließ mich aufhorchen beim Lesen dieser vermeintlichen Weisheit, was aber zunächst höhnisch grinsen, bis ich dann meinen Blick auf den Namen des bedeutenden Verfassers warf und mich an der Schläfe kratzte?


Gegenwart ist keine Zeit. Sie ist der Wimpernschlag zwischen Vergangenheit und Zukunft. Und die Vergangenheit ist die Wissenschaft, während die Zukunft der Glaube ist.


Das habe ich behauptet. Irgendwann. Nun spricht Schopenhauer von real erfüllter Zeit. Und in der Tat muss ich erkennen, dass ein Zeitraum eine Abfolge kleinster zwischen zwei fixen Situationen messbarer Abstände ist. Folglich ist die Gegenwart exakt eine Einheit und somit durchaus Zeit.

Dabei ist der Zeitraum davor nicht länger real. Er ist Erinnerung. Und der Zeitraum danach ist unbestimmt. Eine Verschiebung der Größenverhältnisse der Zeiträume Erinnerung und Unbestimmtheit geschieht mit jedem Lidschlag, mit jeder Einheit Zeit.

Wenn wir uns an etwas Vergangenes erinnern möchten, dann beginnt dieser Prozess in der Gegenwart und endet definitiv in der Zukunft. Und trotzdem nehmen wir die Erinnerung ausschließlich in der Gegenwart wahr; Bruchstück für Bruchstück. Wenn wir uns erinnert haben, liegt diese bereits wieder in der Vergangenheit.

Genauso ist es mit Zukunftsplänen. Auch der Vorsatz beginnt in der Gegenwart und wird in der Zukunft enden. Das Unfassbare aber hier ist, dass nahezu ein kompletter Plan schon wieder dem Vergangenen zuzuschreiben ist.


Wir Menschen nutzen den Begriff Gegenwart heute als einen Zeitraum, der Geschehnisse umfasst, die nicht allzu weit zurück liegen oder in nächster Zukunft voraussichtlich ablaufen werden. Ein solches Vorgehen ist bequemer, als sich kleinkariert und philosophisch mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen.


Ich aber neige zum Kleinkarierten, wenn ich mich frage, wo denn die Grenzen für „nicht allzu weit zurückliegend“ und „in nächster Zukunft“ definiert sind. Das muss zumindest erlaubt sein. Wenn Niemand diese Grenzen eindeutig benennen kann, dann gilt in letzter Instanz die Gegenwart als die oben beschriebene kleinste messbare Einheit eines Zeitraums und ist demnach gleichzusetzen mit dem Ausdruck Zeit.


Meine Aussage werde ich nach dieser Erkenntnis korrigieren, indem ich lediglich das verwendete Wort Zeit durch Zeitraum ersetze. Richtig heißen muss es:


Gegenwart ist kein Zeitraum. Sie ist der Wimpernschlag zwischen Vergangenheit und Zukunft. Und die Vergangenheit ist die Wissenschaft, während die Zukunft der Glaube ist.


03.02.2019

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Meine Nachricht an die Zunft der Verschwörungstheoretiker - COVID-19


Die Menschheit durchlebt derzeit eine schwierige Zeit. Ein Virus ist über uns gekommen und verbreitet sich unkontrollierbar. Überall auf diesem Planeten reagieren Volksbeauftragte, oder solche, die sich selbst dazu ernannt haben, nach bestem Wissen und Gewissen auf die schwer durchschaubaren Aktivitäten dieses Menschenfeindes. Unter Umständen ist dieses COVID-19-Virus nicht absichtlich feindlich gesinnt, sondern bekommt nur unglücklicherweise dem Menschen nicht gut. Wir sagen gern: Zwischen denen stimmt die Chemie nicht.

Es ist da, Punkt! Alles Leben verteidigt sich, wenn seine Existenz bedroht ist. Jetzt verteidigt sich die menschliche Gesellschaft, und es ist zu beobachten, dass die Verteidigungsmaßnahmen uneinheitlich sind. Jeder hat, was die Bekämpfung betrifft, seine eigenen Ansätze und mit Jeder meine ich tatsächlich das Individuum. Zumindest in unserem Land habe ich registriert, dass unsere Volksbeauftragten, sowohl die Regierung als auch der größte Teil der Opposition, sehr früh begriffen haben, dass diese Gefahr atemberaubend groß ist. Da wurde eine Zeit lang konstruktiv zusammengearbeitet. Das hat mir gefallen und ich hatte das Gefühl, dass meine Mitmenschen das ebenso sahen. Die Akzeptanz für die Maßnahmen war groß.

Jeder dieser Politiker und der Virologen und Wissenschaftler und Sportvereinsbosse und überhaupt Jeder hatte Ideen, wie dem Virus am besten zu begegnen sei. Es kam der Sommer, die Menschen gingen raus, und in Deutschland war doch alles gut. Wir hatten wieder Platz zum Streiten.

Irgendwann wussten wir nicht mehr, wer Recht hat, und überhaupt, wer wollte von Krise reden? Da fühlten sich aber plötzlich all die bestätigt, die von vornherein behauptet hatten, das Virus hätten die Chinesen in einem Labor gezüchtet und in die Welt hinausgeschickt. Eine Verschwörung.

Andere meinten, das sei Quatsch. Sie wollten nicht die Chinesen in Schutz nehmen, aber sie wussten zwar um die Gefahr des Virus, das stand außer Frage, nur, dass an der Grippe jährlich allein in unserem Land achtzigtausend Menschen sterben und dass um die kein Politiker weint. Die Maßnahmen waren nach ihrer Beurteilung der Lage mit nichts zu rechtfertigen. Da musste doch Jemand etwas ausgeheckt haben. Da hatte doch irgend so ein Niederträchtiger etwas gegen Gastronomen, meinten die Gastronomen unter den Wissenden. Und die Künstler, Schauspieler, Sänger, Schausteller unter ihnen mutmaßten eine groß angelegte Kampagne gegen jegliches Kulturprogramm. Angehende Piloten von Jumbos hatten sich durch monströse Ausbildungskosten erheblich verschuldet und suchten nach Verschwörern, die das Reisen unterbinden wollten. Wenn es denn welche gibt, werden das in diesem Fall die Ökos gewesen sein, diese neuen Gretas, die sich fast so rasant ausbreiten wie das Virus und ebenso aggressiv auftreten. Verschwörung. Verschwörung. Verschwörung. An jeder Ecke Verschwörung.

Du, Frau, wir dürfen nicht nach Sylt. Die Schleswig-Holsteiner wollen uns nicht reinlassen. Das kann doch nicht sein. Warum dürfen die dann zu uns? Wir haben doch nichts. Oder hast etwa Du Symptome? Ich auch nicht. Die nehmen lieber Dänen. Da ist was oberfaul. Das ist eine Verschwörung.

Junge Erwachsene wollen in Ruhe gelassen werden mit diesem ganzen Virus-Scheiß. Sie wollen feiern. Nach dem vierten Mezcal Mule kann ihnen COVID-19 nichts mehr anhaben. Auch das Beschimpfen der Ordnungskräfte und der Polizisten fällt dann leichter. Wichser, alle die, denken sie und: Die lassen so richtig die Sau raus. Kommen sich stark vor mit ihrem ganzen Equipment an Schlagstöcken, Pistolen und Pfefferspray um den Bauch geschnallt.

Irgendwo haben die jungen Erwachsenen was von Verschwörung gehört. Verschwörung rufen sie und grölen.

Fünfzig Infizierte nach einer verbotenen Party. Bäng!

Die Kanzlerin mahnt zur Vorsicht. Das RKI auch. Die Ministerpräsidenten haben unglücklich entschieden, nicht einheitlich entschieden, Entscheidungen zurückgenommen, angepasst, Fehler gemacht, das Volk entzweit, vergrault, beschworen, aber nicht verschworen. Halt!

Sie haben ganz viel richtiggemacht. Sie haben eine große Gefahr von ihrem Volk abwenden wollen. Ja. Sie wollten auch die Wirtschaft retten, haben den eigenen Ruf verbessern wollen. In Krisen gelingt die Bewährung am besten. Das mag ein Hintergedanke gewesen sein.

Die großen Lebensmittel-Discounter haben auch Hintergedanken, wenn sie 60-Zoll-Fernseher zum kleinen Preis verkaufen. Verschwörung gegen den Fachhandel, sagt der Fachhändler. Hat aber nichts mit Corona zu tun. Interessiert auch nicht den derzeit betroffenen Gastronomen. Er hat einen gekauft, weil er halt günstig war.

Das Virus hat zugeschaut und im Untergrund weitergearbeitet. Was sind denn eigentlich Grundrechte, fragt es sich, weil so viel darüber geredet wird. Und Verfassung?

Na, da frage ich mich, warum das dem Virus noch Niemand erklärt hat. Mag sein, dass im Grunde Jeder weiß: Mit einem Virus kann man nicht diskutieren.

Wir können das jetzt so stehen lassen und weiterhin gegen Windmühlen kämpfen, die sich gegen uns verschworen haben. Oder wir können endlich damit aufhören, nur an uns zu denken und setzen die Masken auf und meiden für einen überschaubaren Zeitraum unnötige Kontakte, weil wir endlich selbst begriffen haben, dass das die einzige Sprache ist, die das Virus versteht und gegenwärtig das einzige Mittel, um Einhalt zu gebieten. COVID-19 ist der Todbringer, egal, ob es in Eigenregie handelt oder vielleicht doch geschickt worden ist. Maske. Abstand. Kontakte meiden. Akzeptieren.

 

26.10.2020

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